Teuflische Täuschungen
Im eisigen Januar 1979 sitzt Maik Kleine in einem Reisebus. Der Vierzehnjährige ist der Jüngste und der einzige Jugendliche unter den Insassen. In Leipzig waren sie losgefahren, jetzt werden sie im gleißenden Flutlicht des Grenzübergangs Marienborn kontrolliert. Die DDR-Grenzer lassen keine Schikane aus, um die Passagiere zu demütigen, und suchen nach winzigsten regimefeindlichen Partikeln, um sie womöglich wieder in die Zellen zurückzuspedieren, aus denen die Älteren alle kommen. Denn sie sind allesamt Seitenwechsler, von der BRD freigekaufte politische Häftlinge.
Maik ist, was manche seiner Altersgenossen als »Bonzensohn« bezeichnen. Sein Vater, der Pharmakologe Dr. Gerhard Kleine, hatte in der Forschungsabteilung der VEB Chemopark Leipzig gearbeitet, bis er einen mysteriösen Tod starb. Sein Kollege Artur Kretschmer, der Leiter des Jugendbereichs, hatte sich seither für Maik eingesetzt. Dank seiner Fürsprache durfte der Junge über Weihnachten am Fußball-Ferienlager im sozialistischen Bruderland Polen teilnehmen. Doch dort wendet sich sein Schicksal. In der Silvesternacht kommen seine beiden Geschwister bei einem Wohnungsbrand ums Leben. Die Mutter Freya wird für das Unglück verantwortlich gemacht und auf absehbare Zeit in einer Klinik psychologisch betreut werden müssen.
Maiks einzige weitere Verwandte ist Freyas unverheiratete Zwillingsschwester Vera Blech. Sie lebt im Westen, in Heidelberg, wo sie im Apotheken-Museum arbeitet. Die Ost-Behörden verständigen sie über das Geschehene, und sie beantragt umgehend das Sorgerecht für ihren Neffen. Der aber will nicht weg, sondern in der Nähe seiner Mutter bleiben. Mit der Tante verbindet ihn nichts als die zu Weihnachten und Ostern eintreffenden Pakete mit Kaffee, Seidenstrümpfen, Kosmetik, Süßwaren und Blue Jeans, hartnäckig adressiert an den Mädchennamen der Mutter.
Warum Vera Leipzig verlassen hat, um in die BRD zu ziehen, das wollte Freya ihrem kleinen Sohn später einmal erzählen. Dazu kommt sie nun nicht mehr. Auf eigene Faust die Wahrheit aufzuspüren wird Maik noch Jahrzehnte später beschäftigen, und er wird feststellen, dass Täuschung, Illusion und Inszenierung die Schlüsselbegriffe sind, denen er sich stellen muss. Kaum etwas im Leben seiner Familie, dem Plot dieses Romans, ist wirklich so, wie es scheint, und in immer neuen Paketen erreichen ihn (und uns Leser) immer wieder neue Versionen.
Nicht nur sein Jugendamt-Betreuer überzeugt Maik, dass die Ausreise eine bessere Wahl ist als die Zwangsadoption, die ihn in der DDR erwartet. Auch Freya rät ihm dazu und schiebt ihm heimlich einen Brief unter den Pullover, ehe er sie für immer im »Reich des Unheimlichen« zurücklässt.
Wenn Maik denn in den Westen umziehen soll, so will er sich nicht »blenden« lassen. Zeit seines Lebens hat man ihn gelehrt, was die BRD sei: »eine Schlangengrube egoistischen Natterngezüchts «, »eine Brutstätte für Faschisten, Nationalisten, Revanchisten«, ein »dekadentes« System, in dem »imperialistische Aggressoren [...] mit ihrem Milliarden fressenden Rüstungswahn nach der Weltherrschaft griffen«. Er glaubt gelernt zu haben, »das Gute vom Schlechten und das Wahre vom Falschen zu unterscheiden«, und würde sich nicht vom »Schein einer trügerischen Freiheit« den Kopf verdrehen, die Sinne trüben lassen.
Vera sieht ihrer Schwester zum Verwechseln ähnlich und ist doch völlig anders – vor allem eine tiefgläubige Katholikin. Mutter hatte immer nur spöttische Verachtung übrig für Menschen, die ihr Leben an den abstrusen Vorstellungen uralter Textsammlungen wie der Bibel ausrichten. Ihrer Meinung nach gehören die in die »Klapse«. Doch dort sitzt jetzt die Atheistin Freya, nicht die fromme Vera.
Aus dem Brief seiner Mutter, den Maik der Tante nur widerstrebend zu lesen gibt, erfährt Vera Erschreckendes. Es erschüttert sie derart, dass sie sich noch in derselben Nacht das Leben nehmen wird. In den Gesprächen zuvor allerdings hat sie Maik wichtige Impulse gegeben. Der Teufel sei »der wahre Meister der Täuschung. Viel zu spät erst merken wir, dass wir nicht gegen ihn gekämpft haben, sondern mit ihm. Dass er uns zu seinem Werkzeug gemacht hat«. Doch was für einen Teufel meinte sie?
Von 1979 bis 1983 lebt Maik in einem Heidelberger Jesuitenkolleg. Pater Leonhard ist dort sein prägender Lehrer, väterlicher Freund und persönlicher Missionar. Er versucht Maik auf den rechten katholischen Weg zu lenken, lehrt ihn richtig beten (anders als die Tante, die Selbstmord-Sünderin), doch der arme Heide kann seine Zweifel niemals ablegen.
Nach dem Besuch einer Zirkusvorstellung vollzieht Maik seinen zweiten »Weltenwechsel«: Er verfällt der Macht der Illusionen, der magischen Spiegel- und Vexierbilder der Manege. Er wirft seine Schulkarriere hin und reist zwölf Jahre lang mit dem Zirkus des großen Alberto Bellmonti, der zu seinem neuen Lehrmeister und Ziehvater wird, durch die Lande. Maiks Aufgabe ist es, den Höhepunkt der Show, den großen Auftritt von Albina, der schwebenden Jungfrau, perfekt auszuleuchten. Seine Arbeit macht die Publikumstäuschung erst möglich. Seine Talente finden internationale Beachtung.
Noch einmal vergehen zwölf Jahre, ehe Maiks Weltbild in sich zusammenbricht und er sich auf eine Spurensuche begibt, die ihn tief in die Vergangenheit seiner Familie und der DDR führen wird. Alberto Bellmonti stirbt 2007, und alles, was in der Zirkus- und Artistenwelt Rang und Namen hat, kommt in Berlin zusammen, um ihn in einer gigantischen Prozession aus Menschen, Tieren, Sensationen zu Grabe zu tragen. Seine letzte Ruhestätte ist der denkmalgeschützte Friedrichsfelder Zentralfriedhof im Osten Berlins, wo bedeutende Kommunisten (Rosa Luxemburg, Ernst Thälmann ...) und Funktionäre (Walter Ulbricht, Erich Mielke ...) liegen und zuletzt nur Prominente des kollabierten DDR-Systems (Markus Wolf, 2006) mit Ausnahmegenehmigung beigesetzt wurden.
Bellmonti »musste über einflussreiche Beziehungen verfügt haben«, um so ein posthumes Privileg genießen zu dürfen. In der Tat wirft schon nach wenigen Tagen ein Fernsehbericht dunkle Schatten auf den großen Illusionskünstler. Schon seit den Siebzigerjahren habe Bellmonti als IM Houdini Spitzeldienste für das Ministerium für Staatssicherheit geleistet. Maik kann das nicht glauben. Um das Ansehen seines Mentors reinzuwaschen, beginnt er seine Recherchen.
Damit nimmt der dritte Teil der Handlung, eine Art Agententhriller, seinen Lauf. Nach und nach, auf teils chaotisch verflochtenen Pfaden, durchdringt Ich-Erzähler Maik ein weitreichendes Geflecht düsterer Geheimnisse um Liebe, Korruption und Mord, um Stasi, Spione und Wissenschaftler, in das Maiks Familie tief verstrickt ist, das sie vernichtet hat und das wir Leser mit einiger Spannung aufarbeiten.
Rolf Bauerdick ist mit »Pakete an Frau Blech« ein Roman gelungen, der gekonnt mit Realität und Illusion spielt und eine Vielzahl von Motiven und Themen unter einen Hut bringt – die Aufklärung von Verbrechen, die deutsch-deutsche Geschichte, den Kalten Krieg, erstaunliche Erkenntnisse der Pharmakologie, Liebesdramen und Zirkusmilieu. All das wird leicht und lebhaft erzählt und liefert gute Unterhaltung. Allerdings darf man keine differenzierte, historisch-politisch fundierte Sicht auf die real existierenden Verhältnisse jener Jahre erwarten. Der Blick auf die DDR ist einseitig und plakativ, da wird kein hässliches Detail des Unrechtsstaates ausgelassen. Als Gegenstück wird weniger die freiheitlich-demokratische Grundordnung der BRD, sondern überraschenderweise ein theologisch fundiertes Weltbild streng katholischer Prägung herausgestellt und vergleichsweise aufwändig vertieft. Angesichts der tatsächlichen Relevanz des religiösen Diskurses in beiden deutschen Staaten mutet diese Schwerpunktsetzung merkwürdig an. Es ist Pater Leonhard, der am Ende aktiv ins Geschehen eingreift, um das Übel zu tilgen.
Fazit: Ein gut gemeintes Westpaket mit buntem Inhalt, aber ziemlich leichtgewichtig .