Rezension zu »Makarionissi oder Die Insel der Seligen« von Vea Kaiser

Makarionissi oder Die Insel der Seligen

von


Belletristik · Kiepenheuer & Witsch · · Gebunden · 464 S. · ISBN 9783462047424
Sprache: de · Herkunft: de

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Heldinnen weinen nicht

Rezension vom 08.10.2015 · 5 x als hilfreich bewertet mit 1 Kommentaren

In Kristallkugeln zu lesen ist natürlich Humbug. Seriös ist es dagegen, zu interpretieren, wie eine Schere zu Boden fällt – spitz oder flach? Auch Kaffeesatz, Hennen, die wie Hähne krähen, und vorzeitig welkendes Gras sind bedeutsame Omen zukünftiger Er­eig­nisse. Solche Zeichen senden uns die Götter und unsere Ah­nen aus dem Himmel. Man muss sie nur erkennen. Wer sie aber übersieht, den bestraft das Schicksal, so wie 1918 den studierten Kaufmann Herrn Kouzis, der, anstatt angesichts überdeutlicher Un­heils­sig­nale (ein Kalb mit zwei Köpfen! ein Vögelchen ohne Flügel!) zu fliehen wie seine Frau und seine kleine Toch­ter Maria, in der von den Türken bedrohten Stadt blieb und seine Über­heb­lich­keit mit dem Leben bezahlte.

Davon ist Maria Kouzis überzeugt, ebenso wie von ihrer Gabe, die Botschaften von oben deuten zu kön­nen. Schon viele Male in ihrem inzwischen langen Leben verrieten sie ihr, ob ein junges Paar glücklich miteinander werden wird oder nicht. Daher nennt sie ein jeder in Varitsi, ihrem kleinen Bergdorf an der griechisch-albanischen Grenze, »Yiayia« (Großmutter) – liebevoll und mit Respekt.

Hätte Maria nur richtig verstanden, was ihr die himmlischen Wesen in einer denkwürdigen schlaflosen Nacht des Jahres 1956 mitteilen wollten, wäre alles ganz anders gekommen. Vor allen Dingen hätten Eleni und Lefti niemals geheiratet, und damit wäre ein ganzer Ratten­schwanz an Migration, neuen Ver­bin­dun­gen und Auf­gaben­stellun­gen entfallen.

Marias eigene Ehe war mit Zwillings­töchtern (Despina und Pagona) gesegnet, die beide selbst Kinder be­kamen. Für den einzigen Knaben darunter sieht seine Großmutter allerdings schon kurz nach seiner Geburt (1945) die Chancen auf späteres Eheglück dahinschwinden. Denn 1940/41 zog der Krieg übers Land, ihm folgten Hungersnot und der Bürgerkrieg von 1946. Wenn Ehemänner zum Gewehr greifen müssen und es nichts zu beißen gibt, werden nicht viele Kinder in die Welt gesetzt. Wie soll Marias Enkel Lefti (Despinas Sohn) also dereinst eine Frau finden, ohne sein Heimatdorf verlassen zu müssen?

Die Sorge lässt Maria nicht ruhen, zumal der Junge auch ein Erbe an Macht und Gütern fortführen soll. Eine Lösung ganz nach ihrem Gusto wüsste sie schon, und sie könnte sogar allein mit Bordmitteln reali­siert werden. Ihre Zwillinge geschickt auf diese Bahn zu lenken ist das geringste Problem. Pagona müsste halt noch einmal eine Tochter bekommen, und die könnte man dann mit Lefti verbandeln ...

Was aber sagen die Überirdischen zu dieser kühn konzipierten Liaison? Tatsächlich bringt Pagona 1949 ein Mädchen, Eleni, zur Welt, aber es vergehen sieben Jahre der Ungewissheit, bis sich das Jenseits mel­det. 1956 also reißt eines Nachts ein Traumbild die wie immer schlaflos harrende Maria von ihrer Bettstatt hoch. Prächtig gewandet erscheint ihr die Heilige Paraskevi und legt die Händchen von Eleni (7) und Lefti (11) ineinander, während ringsum Unmengen von Sonnenblumen aus dem Boden schießen. Maria ist zu Tränen gerührt: Endlich geben die Götter ihren Segen!

Leider hat Yiayia Maria die Botschaft miss­ver­stan­den. Dabei weiß doch jeder, was Son­nen­blu­men für eine Liebe pro­phe­zeien: Unglück ohne Hoffnung ...

Und wie es die Jenseitigen ungehört vor­her­sag­ten, entwickelt sich Eleni ganz anders, als es die Familie er­wartet. Freiheit ist ihr höchstes Gut. Niemals würde sie sich einem Mann unterwerfen, schon gleich nicht heiraten und am Herd stehen. Romantik ist ihr wesensfremd. Ihre liebsten Gefährten sind philosophische Bücher und linke Traktate, das kommunistische Konzept be­geis­tert sie. Inspiriert von Großmutters frühen Erzählungen aus der griechischen Götterwelt, möchte sie selbst eine »Heldin« werden, als jungfräuliche »Amazone« die »Bestien« der Welt bekämpfen.

Dazu gibt ihr die Politik bald Gelegenheit, als nach dem Militärputsch 1967 auch in die Berg­region um Varitsi eine neue Ordnung herüber­schwappt. Die provokante Linke Eleni und der vom Militär legitimierte und nigelnagelneu uniformierte Ordnungshüter geraten heftig aneinander. Wie dem Prinzen im Märchen gelingt es Lefti, die inhaftierte Heldin trickreich zu befreien. Das bringt sie allerdings in Zugzwang, und so erhält Lefti das heiß ersehnte Ja-Wort.

Um der repressiven Diktatur zu entfliehen, emigriert das frisch gebackene Ehepaar ins nieder­sächsi­sche Provinz­städt­chen Hildesheim, wo Eleni weiterhin revoluzzert (»Freiheit für Griechenland«), während sich Gastarbeiter Lefti vorbildlich in die deutsche Leitkultur integriert. Ihre Ehe ist und bleibt eine aus der Not geborene Zweck­gemein­schaft. Liebe finden beide bei anderen Partnern, und damit sind die Segel gesetzt, damit die Odyssee dieses Romans im zweiten Drittel noch mehr Fahrt aufnehmen, noch mehr Passagiere aufnehmen und noch viel größeren Raum greifen kann. Chicago, St. Pölten, Zürich, schließlich (im letzten Drittel) eine Art Heimkehr in die griechische Heimat auf die Insel Makarionissi, wo sich manche Mitglie­der des weitläufigen Familienclans eine neue Existenz aufbauen, andere ab und zu be­suchs­weise anlanden. Am Ende erreichen wir das Jahr 2014 und stellen abschließend fest, dass die Menschen irgendwie doch alle gleich sind, ob sie nun in Niedersachsen, Nieder­öster­reich, Nord­grie­chen­land, Zürich oder Illinois so­zialisiert wurden ...

Wir erleben in diesem Buch auch, wie stark Fami­lien­bande bis in unsere Zeit wirken können. Für den schönen Aspekt, dass ihre Erzäh­lung »mit lite­rari­schen Stil­mitteln ein zeit­genössi­sches Bild der Fami­lie zeich­net«, erhält die Autorin Ende Novem­ber den Buch­preis 2015 der Stif­tung Ravens­burger Verlag.

Die Autorin Vea Kaiser, 1988 im nieder­öster­reichi­schen St. Pölten geboren, beglückt ihre Leserschaft mit einer hübsch aufgezogenen, gefälligen, amüsanten und fantasievollen Unter­haltungs­lektüre. Ihre unge­zähmte Fabulierlust und die Vielfalt der Schauplätze und Personen produ­zieren immer neue Episödchen, können aber nicht aus­schließen, dass sich bei manchem Leser dennoch Überdruss und Langeweile einstel­len. Denn dem Übermaß an Impressionen steht das Gleichmaß des leicht eingängigen Schreibstils, der fla­chen Charak­ter­zeich­nung und der schlichten chrono­logi­schen Struktur gegen­über. Bis auf Lefti, dem – be­absichtigt oder nicht – mehr Zuwendung und Tiefgang zuteil wird, ragt keine der vielen Figuren besonders heraus. Zwar liegen Lust und Leid nah beisammen (die Autorin betreibt keine Schönfärberei), aber die un­endliche Familien­ge­schichte fließt ohne schreckliche Schick­sals­schläge dahin wie ein ruhiger Fluss, ohne dass markante Ereignisse oder Wendungen für Dramatik sorgen.

Würze (und Bildungsgewinn) bringt die originelle Einbindung von Figuren und Motiven aus der klassi­schen griechischen Sagenwelt (das Wirken der Götter unter den Menschen, Heldentum, Amazonen ...) und Homers Odyssee (Kaiser, die Altgriechisch studiert hat, nennt die neun Kapitel ihres Epos »Gesänge«), und auch die gut recherchierten politisch-sozialen Hintergründe, vor allem Griechenlands (Aus­einan­der­setzun­gen mit der Türkei, Kriegs­ereig­nisse, die Zeit der Militärjunta; die Rolle der Frauen, die wirt­schaft­liche Entwicklung ...), sind interessant zu lesen.


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Kommentare

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Zu »Makarionissi oder Die Insel der Seligen« von Vea Kaiser wurden 1 Kommentare verfasst:

Koch schrieb am 19.12.2015:

Das Buch ist besser als die obige Rezension. Die Geschichte geht ans Herz und die Charaktere sind wunderbar gezeichnet, die Liebesgeschichten sind sehr zärtlich dargestellt. Die sogenannten Episödchen passen perfekt in die Geschichte und vor sich hin plätschern tut die Handlung meiner Meinung nach nicht, sie reißt einen mit sich und man schmunzelt immer wieder über überraschende Ereignisse und Begegnungen. Überdruss, Langeweile und fehlende Dramatik sind eine harte Kritik für ein so kunst- und phantasievolles Buch.

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