Heldinnen weinen nicht
In Kristallkugeln zu lesen ist natürlich Humbug. Seriös ist es dagegen, zu interpretieren, wie eine Schere zu Boden fällt – spitz oder flach? Auch Kaffeesatz, Hennen, die wie Hähne krähen, und vorzeitig welkendes Gras sind bedeutsame Omen zukünftiger Ereignisse. Solche Zeichen senden uns die Götter und unsere Ahnen aus dem Himmel. Man muss sie nur erkennen. Wer sie aber übersieht, den bestraft das Schicksal, so wie 1918 den studierten Kaufmann Herrn Kouzis, der, anstatt angesichts überdeutlicher Unheilssignale (ein Kalb mit zwei Köpfen! ein Vögelchen ohne Flügel!) zu fliehen wie seine Frau und seine kleine Tochter Maria, in der von den Türken bedrohten Stadt blieb und seine Überheblichkeit mit dem Leben bezahlte.
Davon ist Maria Kouzis überzeugt, ebenso wie von ihrer Gabe, die Botschaften von oben deuten zu können. Schon viele Male in ihrem inzwischen langen Leben verrieten sie ihr, ob ein junges Paar glücklich miteinander werden wird oder nicht. Daher nennt sie ein jeder in Varitsi, ihrem kleinen Bergdorf an der griechisch-albanischen Grenze, »Yiayia« (Großmutter) – liebevoll und mit Respekt.
Hätte Maria nur richtig verstanden, was ihr die himmlischen Wesen in einer denkwürdigen schlaflosen Nacht des Jahres 1956 mitteilen wollten, wäre alles ganz anders gekommen. Vor allen Dingen hätten Eleni und Lefti niemals geheiratet, und damit wäre ein ganzer Rattenschwanz an Migration, neuen Verbindungen und Aufgabenstellungen entfallen.
Marias eigene Ehe war mit Zwillingstöchtern (Despina und Pagona) gesegnet, die beide selbst Kinder bekamen. Für den einzigen Knaben darunter sieht seine Großmutter allerdings schon kurz nach seiner Geburt (1945) die Chancen auf späteres Eheglück dahinschwinden. Denn 1940/41 zog der Krieg übers Land, ihm folgten Hungersnot und der Bürgerkrieg von 1946. Wenn Ehemänner zum Gewehr greifen müssen und es nichts zu beißen gibt, werden nicht viele Kinder in die Welt gesetzt. Wie soll Marias Enkel Lefti (Despinas Sohn) also dereinst eine Frau finden, ohne sein Heimatdorf verlassen zu müssen?
Die Sorge lässt Maria nicht ruhen, zumal der Junge auch ein Erbe an Macht und Gütern fortführen soll. Eine Lösung ganz nach ihrem Gusto wüsste sie schon, und sie könnte sogar allein mit Bordmitteln realisiert werden. Ihre Zwillinge geschickt auf diese Bahn zu lenken ist das geringste Problem. Pagona müsste halt noch einmal eine Tochter bekommen, und die könnte man dann mit Lefti verbandeln ...
Was aber sagen die Überirdischen zu dieser kühn konzipierten Liaison? Tatsächlich bringt Pagona 1949 ein Mädchen, Eleni, zur Welt, aber es vergehen sieben Jahre der Ungewissheit, bis sich das Jenseits meldet. 1956 also reißt eines Nachts ein Traumbild die wie immer schlaflos harrende Maria von ihrer Bettstatt hoch. Prächtig gewandet erscheint ihr die Heilige Paraskevi und legt die Händchen von Eleni (7) und Lefti (11) ineinander, während ringsum Unmengen von Sonnenblumen aus dem Boden schießen. Maria ist zu Tränen gerührt: Endlich geben die Götter ihren Segen!
Leider hat Yiayia Maria die Botschaft missverstanden. Dabei weiß doch jeder, was Sonnenblumen für eine Liebe prophezeien: Unglück ohne Hoffnung ...
Und wie es die Jenseitigen ungehört vorhersagten, entwickelt sich Eleni ganz anders, als es die Familie erwartet. Freiheit ist ihr höchstes Gut. Niemals würde sie sich einem Mann unterwerfen, schon gleich nicht heiraten und am Herd stehen. Romantik ist ihr wesensfremd. Ihre liebsten Gefährten sind philosophische Bücher und linke Traktate, das kommunistische Konzept begeistert sie. Inspiriert von Großmutters frühen Erzählungen aus der griechischen Götterwelt, möchte sie selbst eine »Heldin« werden, als jungfräuliche »Amazone« die »Bestien« der Welt bekämpfen.
Dazu gibt ihr die Politik bald Gelegenheit, als nach dem Militärputsch 1967 auch in die Bergregion um Varitsi eine neue Ordnung herüberschwappt. Die provokante Linke Eleni und der vom Militär legitimierte und nigelnagelneu uniformierte Ordnungshüter geraten heftig aneinander. Wie dem Prinzen im Märchen gelingt es Lefti, die inhaftierte Heldin trickreich zu befreien. Das bringt sie allerdings in Zugzwang, und so erhält Lefti das heiß ersehnte Ja-Wort.
Um der repressiven Diktatur zu entfliehen, emigriert das frisch gebackene Ehepaar ins niedersächsische Provinzstädtchen Hildesheim, wo Eleni weiterhin revoluzzert (»Freiheit für Griechenland«), während sich Gastarbeiter Lefti vorbildlich in die deutsche Leitkultur integriert. Ihre Ehe ist und bleibt eine aus der Not geborene Zweckgemeinschaft. Liebe finden beide bei anderen Partnern, und damit sind die Segel gesetzt, damit die Odyssee dieses Romans im zweiten Drittel noch mehr Fahrt aufnehmen, noch mehr Passagiere aufnehmen und noch viel größeren Raum greifen kann. Chicago, St. Pölten, Zürich, schließlich (im letzten Drittel) eine Art Heimkehr in die griechische Heimat auf die Insel Makarionissi, wo sich manche Mitglieder des weitläufigen Familienclans eine neue Existenz aufbauen, andere ab und zu besuchsweise anlanden. Am Ende erreichen wir das Jahr 2014 und stellen abschließend fest, dass die Menschen irgendwie doch alle gleich sind, ob sie nun in Niedersachsen, Niederösterreich, Nordgriechenland, Zürich oder Illinois sozialisiert wurden ...
Wir erleben in diesem Buch auch, wie stark Familienbande bis in unsere Zeit wirken können. Für den schönen Aspekt, dass ihre Erzählung »mit literarischen Stilmitteln ein zeitgenössisches Bild der Familie zeichnet«, erhält die Autorin Ende November den Buchpreis 2015 der Stiftung Ravensburger Verlag.
Die Autorin Vea Kaiser, 1988 im niederösterreichischen St. Pölten geboren, beglückt ihre Leserschaft mit einer hübsch aufgezogenen, gefälligen, amüsanten und fantasievollen Unterhaltungslektüre. Ihre ungezähmte Fabulierlust und die Vielfalt der Schauplätze und Personen produzieren immer neue Episödchen, können aber nicht ausschließen, dass sich bei manchem Leser dennoch Überdruss und Langeweile einstellen. Denn dem Übermaß an Impressionen steht das Gleichmaß des leicht eingängigen Schreibstils, der flachen Charakterzeichnung und der schlichten chronologischen Struktur gegenüber. Bis auf Lefti, dem – beabsichtigt oder nicht – mehr Zuwendung und Tiefgang zuteil wird, ragt keine der vielen Figuren besonders heraus. Zwar liegen Lust und Leid nah beisammen (die Autorin betreibt keine Schönfärberei), aber die unendliche Familiengeschichte fließt ohne schreckliche Schicksalsschläge dahin wie ein ruhiger Fluss, ohne dass markante Ereignisse oder Wendungen für Dramatik sorgen.
Würze (und Bildungsgewinn) bringt die originelle Einbindung von Figuren und Motiven aus der klassischen griechischen Sagenwelt (das Wirken der Götter unter den Menschen, Heldentum, Amazonen ...) und Homers Odyssee (Kaiser, die Altgriechisch studiert hat, nennt die neun Kapitel ihres Epos »Gesänge«), und auch die gut recherchierten politisch-sozialen Hintergründe, vor allem Griechenlands (Auseinandersetzungen mit der Türkei, Kriegsereignisse, die Zeit der Militärjunta; die Rolle der Frauen, die wirtschaftliche Entwicklung ...), sind interessant zu lesen.