Rezension zu »Wenn unsere Welt zerspringt« von Samira Sedira

Wenn unsere Welt zerspringt

von


Fiktionale Annäherung an eine unbegreifliche, doch tatsächlich geschehene Bluttat, begangen von einem bis dahin unbescholtenen Dorfbewohner in einem abgelegenen Tal.
Belletristik · Piper · · 176 S. · ISBN 9783492071017
Sprache: de · Herkunft: fr

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Ein Getriebener

Rezension vom 26.06.2022 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Im Jahr 2003 erschütterte ein brutaler Mehrfachmord in der Provinz die franzö­sische Öffent­lichkeit. Auch deutsche Medien berich­teten ausführ­lich. Nun hat die franzö­sisch-algeri­sche Autorin Samira Sedira den Fall, die »Affaire Flactif«, fiktional bear­beitet. Sie verlegt das Geschehen in das Jahr 2015 und erzählt es aus der Rückschau mit einem Abstand von zwölf Monaten, verquickt mit ausführ­lichen Passagen aus dem Gerichts­prozess. Als sehr persön­liche Ich-Erzäh­lerin hat Sedira die Lebens­partnerin des Täters gewählt – eine interes­sante Entschei­dung für eine fein­sinnige Beobach­terin und messer­scharfe Analyti­kerin am Rande des inneren Zirkels von Betrof­fenen, die nicht zögert, sich offen und schonungs­los auch der Frage ihrer eigenen Verant­wortung zu stellen.

Der Schauplatz ist ein Bergdorf in den Savoyer Alpen mit Rathaus, Post und ein paar Läden – ein geradezu paradie­sisch erschei­nender Ort der Stille. Nachdem im Sommer die Sonne auf Mensch und Tier hernieder­brennt, dass man den Schatten suchen muss, kann das Tal im fried­lichen Herbst wieder durch­atmen. Im Winter schließ­lich liegt über allem eine ange­spannt wirkende Laut­losigkeit – das leiseste Geräusch zerstört sie brutal. Am Abend ziehen sich die Bewohner in ihre Häuser zurück, berichten einander beim gemein­samen Essen, wie ihr Tag verlaufen, was ihnen Ungewöhn­liches begegnet ist. Doch niemand hörte in der Winter­stille, »als sie umge­bracht wurden«, keiner ahnte etwas von einem »Blutbad hinter ver­schlosse­nen Türen«.

Auch die Erzählerin fühlt sich ohnmächtig angesichts der Tat, die ihr Mann begangen hat. Seine Gründe kennt sie nicht, sie muss sie erst erschlie­ßen, sein Wesen neu analy­sieren, und sie studiert ihn während des Gerichts­verfah­rens wie einen Fremden. Gleich­zeitig beob­achtet sie, die ihre aufge­wühlten Gefühle kaum noch steuern kann, sich selbst in ihrer unge­wohnten Ratlosig­keit.

Von einem Tag auf den anderen hat sie ihre Unbe­scholten­heit verloren. Egal wie sie sich nach außen hin gibt, ihre Mitbürger beäugen sie als »Frau des Mörders«. Auch der Staats­anwalt impli­ziert eine Art Mittäter­schaft, den Vorwurf eines »unsäg­lichen Mangels an Scharf­sinn«, ein Versagen, aus dem ihr eine Mitver­antwor­tung erwächst: Hätte sie nicht erkennen müssen, welch »wider­liche Bestie in ihrem Gatten schlum­mert«, zumindest dass er sich verändert hat? Die Vorhal­tungen treffen ihr Gewissen, und Anna zermar­tert sich die Seele. Ihre bisherige Welt ist unwieder­bringlich zersprun­gen.

Was hat Constant Guillot zu seiner unvorstell­bar brutalen Tat getrieben? Er legt ein allum­fassen­des Geständ­nis ab, »kalt, monoton, gefühllos«, berichtet den Hergang minutiös und schildert nachvoll­ziehbar, wie die Wut über erlittene Demüti­gungen und Hass auf die Verur­sacher anwuchsen, bis sein innerer Vulkan unbe­herrsch­bar ausbrach. Gleich­zeitig erkennen wir durch Annas Vermitt­lung, wie er sich als Opfer des Schwarzen fühlt, der ihn in diese Tat getrieben habe.

An einem Samstag im Juli feierten die Dorfbe­wohner auf einem Bauernhof eine aus­gelas­sene Hochzeit bis spät in die Nacht. Die Musik hatte schon an Elan verloren, etliche Gäste hingen er­schlafft in wohligen Träumen, als noch zwei geladene Gäste erschie­nen, mit denen keiner mehr gerechnet hatte. Der Auftritt des dunkel­häutigen, ganz in Weiß geklei­deten Paares in stock­schwarzer Nacht war effekt­voll insze­niert. Anna wechselt ein paar freund­liche Worte mit ihnen, wird als »liebe Nachbarin« von ihnen ein­genom­men, ist dennoch erleich­tert, als sich die beiden verab­schieden.

Das waren Sylvia und Bakary Langlois, Annas und Constants neue Nachbarn, und niemand konnte ahnen, dass sie Opfer einer Bluttat werden würden. Sie fallen nicht nur wegen ihres Äußeren ins Auge (noch nie hatte es in der Gegend farbige Mitbe­wohner gegeben), sondern auch wegen ihres un­überseh­baren Reichtums. Mit ihren drei Kindern (zwischen sieben und zwölf Jahre alt) beziehen sie ein nobles Chalet, das sie auf einem weit­läufi­gen Grund­stück erbauen ließen, in der Garage parken Luxus­autos, ihr Lebens­wandel ist glamourös.

Erzählerische Details deuten uns schon früh an, dass nicht alles zusammen­passt, was sich hier begegnet, und dass sich Unge­wisses anbahnt. Die welt­läufigen Neubürger treffen auf klein­geistige und xenophobe Dorfbe­wohner. Die streichen zwar gern die Einnahmen aus dem Sommer­touris­mus ein, aber die vielen fremden Besucher dulden sie nur wider­willig im Ort, und was sie über Schwarze von sich geben, sind üble rassis­tische Klischees.

Auch zwischen den benachbarten Ehe­paaren sind die Unter­schiede groß. Annas Ehe ist seit Jahren auf das Alltäg­liche reduziert. Als sie sich in Constant verliebte, war er Hoch­leistungs­sportler. Dann verän­derte ein schwerer Unfall tiefgrei­fend seine Persön­lich­keit und seine Beziehung zu Anna. Doch für sie ist »Liebe« nicht messbar, schon gleich nicht nach ihrem äußeren Anschein. Wie die Langlois ihre Zärtlich­keiten zur Schau stellen, empfindet sie deshalb als künstlich und unbe­deutend. Ganz anders Constant: Der gesteht freimütig seinen Neid auf das familiäre Glück, »die unfehl­bare Liebe […], die Warm­herzig­keit in ihrem Zuhause, die Lebens­freude« und den Wohlstand der Nachbarn. Solch eine Erfüllung war ihm nie vergönnt, und in seiner Lebens­zeit kann er auf solche Erfolge nicht mehr hoffen.

Allerdings war auch Bakary Langlois’ Lebens­weg steinig, wie er seinen neuen Nachbarn anver­traut. Seine Enthül­lungen – beispiels­weise, dass er als Kind armer Eltern in Gabun mit vier Jahren zur Adoption freige­geben wurde – lassen Constants anfangs reser­vierte Haltung weichen zugunsten von Respekt, Bewun­derung und Sympathie – bis seine Gefühle später in Enttäu­schung und Hass umschla­gen und in unbe­greifli­cher Gewalt kulmi­nieren.

Samira Sediras Roman »Des gens comme eux« wurde von Alexandra Baisch ins Deutsche übersetzt. Das kompakte Buch bietet mit seinem rätsel­haften Kriminal­fall und er­schüttern­den Ein­blicken in die mensch­liche Psyche ein unge­wöhn­liches Lese­erlebnis.


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