Rezension zu »Der Überläufer« von Siegfried Lenz

Der Überläufer

von


Antikriegsroman · Hoffmann und Campe · · 368 S. · ISBN 9783455405705
Sprache: de · Herkunft: de

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Aus einer anderen Zeit

Rezension vom 01.05.2016 · 42 x als hilfreich bewertet mit 1 Kommentaren

Sechs Jahre ist es her, dass der elende Krieg zu Ende ging. Walter Proska, damals Ober­grena­dier, hat die letzten Tage des Kriegs­som­mers an der Ost­front über­lebt. Jetzt will er einen Brief an seine Schwes­ter Maria ab­schi­cken.

Beim alten Ortsapotheker Adomeit will er sich zwei Briefmarken borgen. Als der schwer­hörige Greis nicht öff­net, tritt Proska ins Haus. Er findet Ado­meit, wie er sich eine Spritze setzt. Sie soll ihm helfen, die Er­in­ne­run­gen zu schul­tern, die schon seit dem Welt­krieg – dem ersten – auf ihm lasten. »Schwer wie Zucker­säcke« trägt er an den vielen Toten, speziell dem einen, den er aus dem Hin­ter­halt erschossen hat.

Auch Proska quält die Vergangenheit. Was er Maria mitzu­teilen hat, wird alles zwischen ihnen verän­dern. Mag sie ihn ver­fluchen, ihn an­zeigen – er ist auf alles gefasst.

In diesen kleinen Rahmen hat Siegfried Lenz die Haupt­hand­lung seines zweiten Romans »Der Über­läufer« einge­bettet. Schon mit seinem erfolg­reichen Erstling »Es waren Habichte in der Luft« hatte sich der Ost­preuße Lenz (*1926) in der so­eben ge­grün­deten Bundes­republik als viel­verspre­chendes schrift­stelle­risches Talent vor­ge­stellt. Doch mit dem neuen Manu­skript konnte sich sein Lektor gar nicht an­freun­den. Otto Görner schlug Ände­rungen vor, denen Lenz anfänglich folgte, die er jedoch nicht mehr um­setzen mochte, als es ans Grund­sätz­liche ging. So blieb das Werk in seinem Schreib­tisch ver­schlossen, bis es im Nach­lass auf­ge­fun­den und jetzt, mit 65 Jahren Ver­spätung, von Hoff­mann und Campe ver­öffent­licht wurde. (Das aus­führ­liche Nach­wort re­kon­stru­iert die Vor­gänge präzise.)

Was mag Görner bewogen haben, einen Roman ins Abseits zu schieben, der viel­leicht ein Verkaufs­schla­ger wie sein Vorgänger hätte werden können? Aus heu­tiger Sicht ist das schwer nach­zu­voll­ziehen..

Auf dem Rückweg vom Heimaturlaub in Lyck (Masuren) zur Ostfront verhilft Proska einer hüb­schen jun­gen Polin zur (strengs­tens ver­bote­nen) Mitfahrt im Zug und verliebt sich in sie. Wanda (der er den Kose­namen »Eich­hörn­chen« gibt) ist eine Parti­sanin, die beim nächsten Kontroll­halt wieder in den Sümpfen ver­schwindet.

In der Nacht attackieren Partisanen den Zug, doch Proska überlebt den heim­tückischen Angriff. Mit einem Kame­raden macht er sich auf den lebens­gefähr­lichen Weg zu einer anderen ver­spreng­ten deut­schen Ein­heit. Die Sommer­hitze und Myriaden von Mücken machen die Tage uner­träg­lich, und immer wieder kommt es zu Gefech­ten mit zivilen Wider­ständ­lern. Dabei macht er ganz neue Erfah­rungen im Umgang mit dem Feind, und die Sinn­losig­keit ihres Krieges dringt unauf­halt­sam ins Be­wusst­sein der Männer.

Schließlich erreicht man die »Festung Waldesruh«. Die Anlage ist ein Hort der Absur­dität. Aufge­häufte Gras­fladen sollen die aus Holz­bohlen errich­teten Wände schützen. Die bloße Witte­rung hat ihren Namens­zug zur Un­kennt­lich­keit ver­stüm­melt. Die ver­blie­bene Rest-Kampf­truppe ist ausge­mergelt, von trauma­ti­schen Erleb­nissen gezeich­net, von immer­wäh­render Angst ge­pei­nigt, in den Wahn ge­trie­ben. Die Männer sind auf Tuch­fühlung umgeben von einer feind­lichen Zivil­bevöl­kerung, die ins­geheim brutalste Wider­stands­aktionen aus­heckt. Jeder harm­lose Passant kann Dyna­mit in der Jacke tragen.

In der Miniatur dieses Schauplatzes schildert Lenz den Krieg als Tollhaus. Proska erlebt irr­wit­zige Be­fehle, hirn­loses Gehor­chen, über­drehte Aktio­nen, nerv­liche Koller, er­schre­ckende Ver­rohung, perfides Töten. Das Kom­mando führt der uner­schütter­liche, ver­soffene und ver­drieß­liche Korporal Willi Stehauf. Der ist abge­brüht genug, um einen ernsten alten Pfarrer zu verhöhnen und an­schlie­ßend hinter­rücks zu er­schie­ßen. Seine Männer drang­saliert er mit mar­kigen Worten und bissi­gem Zynismus. »Schnel­ler, schnel­ler!«, treibt er sie beim Gräber­aus­heben an. »Diese Gegend ist kein Kühl­schrank für altes Fleisch.«

Stehaufs bevorzugtes Opfer ist Wolfgang Kürschner, genannt »Milch­bröt­chen«, ein verträumt wirkender junger »Über­schlauer« mit Magen­leiden, der gern über Politik, den Krieg und den Tod nach­sinnt. Wenn er mit Proska auf Patrouille geht, lässt er ihn wissen, was er denkt. Es sind An­sich­ten, die noch Jahre nach Kriegs­ende den meisten Deutschen ebenso miss­fielen wie dem Lektor Görner.

»Was hast du davon, wenn du ärgerst Elefant?«, fragt ein Kamerad und meint: Wozu über­haupt noch schießen angesichts einer erdrü­cken­den Über­zahl schwer bewaff­neter Parti­sanen ringsum? Was wir heute als nüch­terne Lage­ein­schät­zung akzep­tieren, um daraus prag­ma­tische Hand­lungs­optio­nen zu ent­wickeln, war zu Zeiten der Durch­halte­parolen als un­denk­bar ge­brand­markt, ein sub­versi­ver Gedanke, der nach Feig­heit, Verrat und De­sertion schmeckt.

»Milch­bröt­chens« grundsätzlichere Analyse, der Bruch mit der un­mittel­baren Ver­gangen­heit und die poli­ti­schen Kon­sequen­zen, die er daraus zieht, sind für Proska uner­hörtes Neu­land. Auf konser­vative Nach­kriegs­kreise müssen sie als reine Provo­kation gewirkt haben, so augen­fällig uns manche Aus­sage heute er­schei­nen mag. Werte wie »Pflicht«, »Gehor­sam«, »National­bewusst­sein« seien keines­wegs heilig und ewig, sondern als »rheto­risches Sicker­gift« syste­ma­tisch einge­impft worden; »sie haben uns irre, un­selb­ständig gemacht.« Es sei »doch eine kom­plette Idio­tie, wenn wir uns, die wir Deutsch­land sind, für Deutsch­land, also für uns selbst, opfer­ten.« In der Zukunft »müssen [wir] zu einer Form des akti­ven Pazi­fismus kom­men«: eine radikale Position mitten in der äußerst kontro­vers geführten Wieder­bewaff­nungs­dis­kus­sion der erst zwei Jahre alten Ade­nauer-Ära ...

Als »Milch­bröt­chen« den Wahnsinn der »Festung Waldes­ruh« nicht länger er­tragen kann, setzt er sich zur Gegen­seite ab – es sind ja nur ein paar Schritte, und es ist ein Kinder­spiel, den Kontakt mit den Kame­ra­den auf­recht­zu­er­hal­ten. Auch Proska schaut sich bei den Parti­sanen um, findet dort sein »Eich­hörnchen« wieder, verbringt mit ihr liebe­volle Stunden, die die Zeit ver­ges­sen lassen und große Ver­sprechen zeugen. Schließ­lich wechselt auch er die Seiten. Er sagt, er wolle mit­helfen, »die Klicke aus der Welt [zu] schaf­fen«.

Ein politisch Überzeugter ist der bis dahin stand­hafte Soldat Walter Proska nicht. Den wahren Über­läufer »Milch­bröt­chen« be­schimpfte er noch als Ver­räter (»Judas«). Proska ziehen die per­sönli­chen Bin­dun­gen zu Wanda und »Milch­bröt­chen« hinüber ins andere Lager; er ist eher ein Nach- und Mit­läufer.

Auf der anderen Seite werden die Über­läufer keines­wegs mit offe­nen Armen emp­fangen. Strate­gisch spie­len die beiden keine Rolle, im Prinzip sind sie immer noch Feinde, die man, sobald sie nicht kuschen, formlos er­schie­ßen kann, und auch ihre Moral sieht man kritisch: »Sobald ihr besiegt seid, wollt ihr Brüder sein. [...] Erst wenn ihr Gnade braucht[...], dann redet ihr von Brüder­lich­keit«. Proska schämt sich.

Die letzten Wintergefechte sind eher Scharmützel als Schlachten. Proska und »Milch­bröt­chen« kämpfen ziem­lich auf sich allein gestellt in Gräben um Höfe und Scheunen. Jetzt ist Proska aller­dings »auf der Seite der Ge­rechten« und richtet sein Gewehr auf die letzten ehe­maligen Kame­raden.

Nach dem Krieg befindet sich Proska im Osten Deutsch­lands, wo die Sowjet­union einen sozia­listi­schen Staat zu in­stallie­ren beginnt. »Die Not­wendig­keit zu kämpfen [...] ist nicht vorbei. Inner­halb der sozia­listi­schen Gesell­schaft gibt es keinen Still­stand.« Proska erhält einen Büro-Arbeits­platz. Doch schnell be­schleicht ihn ein Un­wohl­sein. Warum kommen und gehen ständig neue Kollegen? Briefe werden abge­fan­gen, Menschen über­wacht, es gibt Verhaf­tungen. Wieder strebt ein staat­liches System nach All­macht und recht­fertigt Unter­drückung als Mittel zur Durch­setzung einer »Revo­lution«. Proska besteigt einen Zug und läuft erneut über, in den Westen. In einem Brief gesteht er seiner Schwester im Osten, welche Schuld er auf seinen Wegen auf sich geladen hat. Dann muss er nur noch zwei Brief­marken organi­sieren ...

Ob »Der Überläufer« so viele Jahre nach seiner Entstehung noch das Zeug dazu hat, sich als ver­spä­teter Nach­kriegs­klassi­ker zu etablie­ren und zu anderen Werken der »Trüm­mer­lite­ratur« (etwa von Andersch, Borchard und Böll) auf­zu­schlie­ßen, bezweifle ich. Obwohl die Sprache meis­ter­lich schön, die Anti­kriegs­thema­tik zeitlos und erzäh­lerisch reizvoll gestaltet ist, wirkt der Roman nicht ganz aus einem Guss – wohl in Folge der abge­broche­nen Über­arbei­tung. Der erste Teil – bis zu Proskas Seiten­wechsel – ist voller span­nen­der und gro­tes­ker Szenen, bei denen das Lachen im Halse erfriert. Dagegen fehlt es im zweiten Teil bis­weilen an Klar­heit und sprach­lichem Nach­druck der Aussage. Lenz' beste Bücher (»Deutsch­stunde«, »So zärt­lich war Suley­ken«) setzen sich durch ein ent­schei­den­des Quänt­chen an lite­rari­scher Kraft und Kon­sequenz von diesem Früh­werk ab.

Lesen sollte man diesen Roman aber trotzdem unbe­dingt. Seine Themen, seine Bot­schaft, seine Mach­art, seine Ehr­lich­keit und seine unge­wöhn­liche Genese rühren auf eigen­artige Weise. Ironi­scher­weise wirkt er jetzt, wo er er­schie­nen ist, nicht viel weniger aus der Zeit ge­fallen als 1951, als Sieg­fried Lenz ihn seinem Verlag (schon damals Hoff­mann und Campe) vorlegte. Damals war die Zeit noch nicht reif für das Buch, heute hat sie es hinter sich gelassen. Was es an Kriegs­schre­cken, Skurri­litäten, Leid, Zynis­men und Ein­stellun­gen prä­sen­tiert und 1951 bei vielen Empö­rung ausge­löst hätte, gehört in­zwi­schen, tau­send­fach und multi­medial über­boten, zu unse­rem Alltag.


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Kommentare

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Zu »Der Überläufer« von Siegfried Lenz wurden 1 Kommentare verfasst:

Beatrix Petrikowski schrieb am 19.07.2016:

Siegfried Lenz ist einfach einer unserer Größten, wie ich finde. Mich haben von ihm "Arnes Nachlass", "Exerzierplatz", "Schweigeminute" und "So schön war Suleyken" begeistert.

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