Rezension zu »Die Dunkelheit in den Bergen« von Silvio Huonder

Die Dunkelheit in den Bergen

von


Historischer Kriminalroman · Nagel & Kimche · · Gebunden · 224 S. · ISBN 9783312005420
Sprache: de · Herkunft: ch

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Packender Krimi und faszinierendes Sittengemälde

Rezension vom 17.12.2013 · 5 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Jahrelang waren Truppen marodierend durchs Land gezogen und hatten die bit­ter­armen Bewohner der letzten Krümel ihrer Habseligkeiten beraubt. Dabei macht ihnen ihre Heimat das Überleben ohnehin schon schwer: enge, un­weg­same Täler, umschlossen von gewaltigen Felsmassiven. Im Sommer dringt die Sonne nur für wenige Stunden durch die dichten Wälder. Die Menschen hier in Grau­bün­den, allesamt Hungerlei­der, trauen keiner fremden Seele mehr über den Weg, und jeder muss für sich und auf seine Weise ums Durchkommen kämpfen. »Deserteure, vertriebene Bauern, verarmte Hand­werks­leute, Waisen, Landstrei­cher« brechen hemmungslos ein, bedienen sich gewissenlos, wo immer sie etwas Brauchbares vermuten. Wovor sollte das Gesindel schon zurückscheuen? »Recht wurde nach Gutdünken gesprochen.«

Nach den Wirrnissen der Napoleonischen Kriege ist seit 1820 Chur die Hauptstadt des Schweizer Kantons, in dem man Deutsch, Rätoromanisch und Italienisch spricht. Hierher versetzt uns der Schweizer Autor Silvio Huonder in seinem neuesten Kriminalroman »Die Dunkelheit in den Bergen«. Im Dunkel bleiben darin auch manche menschliche Abgründe. Huonder erzählt uns einen historisch dokumentierten, jedoch nie voll­stän­dig aufgeklärten Mordfall. »Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?« – dieses nachdenk­liche Zitat von Georg Büchner stellt er dem zweiten Teil seines Romans voran.

Der obskure Fall scheint nach der Aktenlage durchaus klar: Demnach betrat der 52 Jahre alte Gelegen­heitsarbeiter Franz Rimmel am Abend des 11. Juli 1821 die Weihermühle bei Bonaduz (während seine zwei Begleiter draußen warteten) und traf dort den Müller und seine zwei schwangeren Mägde an. Man kannte einander. Vielleicht deshalb ließ der Müller, obwohl man nach reichlichem Branntweingenuss in Streit ge­ra­ten war, Rimmel in der Stube schlafen. Von »Zorn, Rausch und Geld« getrieben, ermordete Rimmel (unter Beteiligung der beiden anderen Männer) in der Nacht den Müller und die Mägde, raubte ein paar Gegen­stände und floh. Schon zwei Tage später wurde er gefangengenommen und gestand seine Tat. Doch zu einer eindeutigen gerichtlichen Klärung seiner Schuld kam es nicht, denn einen Monat nach dem fünf­fachen Raubmord nahm sich Rimmel das Leben. Seine beiden Komplizen wurden »zu lebenslänglicher Zucht­haus­strafe in Ketten verurtheilt«.

Huonder schildert nicht den Hergang der bestialischen Bluttat, sondern befasst sich mit den Personen, de­nen ihre Rekonstruktion und Aufklärung obliegt, sowie dem Leben der Opfer und Täter und ihrer Familien. Das tut er in knappen und sachlichen Erzählpassagen, die an Protokolle und Berichte erinnern. Die Struk­turierung in einundachtzig Kleinkapitel wie scharf geschnittene Filmsequenzen sorgt für schnelle Perspek­tiv- und Ortswechsel. Aus diesen Teilen fügen sich die parallen Handlungen zusammen, die die Personen zu ihrem gemeinsamen Schicksalsort, der Mühle, hin und wieder auseinander führen.

Die zentrale Persönlichkeit ist Baron Johann Heinrich von Mont, 33 Jahre alt. Als »Verhörrichter, oberster Ankläger, Polizeidirektor und Leiter der Zuchtanstalt Sennhof« trägt er die Verantwortung für »Ordnung und Sicherheit im größten Kanton der Schweiz«. Er glaubt fest an die ordnende Kraft der Gesetzgebung, als deren treuer Diener er sich sieht, ist sich aber darüber im Klaren, dass das Ideal der Gerechtigkeit hie­nieden unerreichbar bleibt. Gewissenhaft tut er sein Bestes. Doch neben menschlicher Unzulänglichkeit und der Unschärfe des Faktischen beschränken schon die unzureichenden Mittel seine Ziele. So ist es ein Leichtes, aus dem Sennhof, dem Zuchthaus in Chur, zu entkommen. Erst neulich hatten »zwei Weibsbil­der«, die sich »der Wollust gegen Bezahlung hingegeben hatten«, und ein Arzt, der ohne Lizenz operierte und dessen Patientin nach dem Eingriff verblutet war, die Gunst der Stunde genutzt, als der Wärter einen Moment eingenickt war. Gerade einmal zwanzig Landjäger sichern die Außengrenzen und sollen oben­drein für Ordnung in einhundertfünfzig Tälern sorgen. Händeringend sucht der Baron weitere Hilfskräfte.

Eines Nachts sind zwei Einbrecher über die Stadtmauer geklettert und ausgerechnet im Gefängnishof ge­landet. Der Batzen Geld unter ihren Kleidern macht sie als Diebsgesindel verdächtig. Doch es stellt sich heraus, dass sie die Söhne der ehrbaren Churer Bürgerfamilien Hostetter und Rauch sind, in den letzten Jahren als Söldner in der königlich-niederländischen Armee gedient haben und nun mit ihrem gesparten Sold in ihre Heimatstadt zurückkehren wollten. Sie wussten aber nicht, wie sich die Zeiten inzwischen ge­ändert hatten. Das Stadttor bleibt jetzt nachts geschlossen, der Gefängnishof ist neu, und viele Gesetze regle­mentieren das Leben der Stadtbevölkerung. Für Fuhrwerke gilt eine Verkehrsordnung, und »Schlit­ten­fah­ren zum bloßen Vergnügen« ist ebenso verboten wie »nächtliches Umherschwärmen und Lärmen in den Gassen«. Die beiden sind einsichtig: »Gesetze werden nicht zum Spaß geschrieben.«

Inzwischen ist eine Bestellung des Barons angekommen: eine handgefertigte, schwarzlackierte Karosse, »ein Gespann, wie es in Graubünden kein zweites gab«, mit »vergittertem Abteil für den Delinquenten« und einer »gepolsterten Bank« im »vorderen Abteil«. Doch die Besichtigung hat kaum begonnen, da trifft ein atemloser Bote mit einem Brief des Landammanns vom Gericht Imboden ein: »In der Weihermühle … hinter Bonaduz … eine schlimme Geschichte …«

Nun muss der wackere Baron von Mont als Kommissar die ersten Untersuchungen vor Ort übernehmen. Die Zeugen, die er befragt, belasten einhellig Franz Rimmel als mutmaßlichen Mörder, und der ist längst über alle Berge. Ehe sie sich’s versehen, werden Hostetter und Rauch zu Landjägern berufen und nehmen die amtliche Verfolgung auf.

Dieses faszinierende Buch schafft eine dichte Atmosphäre, die Gestaltung des Romans ist hell und klar. Huonder gibt uns detaillierte Beschreibungen wundersamer Personen, Räume und Szenen, und ganz ne­benbei fließt eine Menge interessanter Details in die Handlung ein, etwa die Tarife für Scharfrichter oder der Wechselkurs zwischen Batzen, Gulden, Kreutzern, Franken, Pfennigen und Hellern.

Aufschlussreich auch, wie das neunzehnte Jahrhundert bis in die Graubündner Provinz einen Aufbruch in die Moderne brachte. Wenn Baron Johann Heinrich von Mont des Morgens seine »Neue Zürcher Zeitung« studiert, schauen wir ihm über die Schulter und erfahren das Neueste aus der Schweiz und dem Auslande. In Deutschland geht man nach den Karlsbader Beschlüssen rigoros gegen die umstürzlerischen Liberalen und Burschenschaften vor. London beleuchtet seine gefährlichen nächtlichen Straßen und Gassen jetzt mit einer Gasbeleuchtung. Auch die Schweiz modernisiert sich; sie investiert spektakuläre Summen und Kräfte in ihr Wegenetz. Bald wird selbst Chur mit der Welt verbunden sein. Dann wird es Reisezeiten geben, da »konnte einem schwindlig werden«: »in 24 Stunden … in Zürich, … in 32 Stunden in Bellinzona«!

Zum Abschluss Ihrer Lektüre, die Sie hoffentlich ebenso genießen werden wie ich, empfehle ich Ihnen, ein kleines Informationsblättchen der Stadt Chur herunterzuladen [http://www.chur.ch/dl.php/de/0dpsw-lor6kz/Rimmel.pdf]; Sie finden darin kurze Texte und historische Abbildungen zu »Dichtung und Realität« des Falles Franz Rimmel.


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