Mit Herz und Hand in Feindesland
Obwohl Simon Mawer bereits acht Romane geschrieben hat (zwei davon für den renommierten Booker-Preis nominiert), ist der 1948 geborene britische Autor der deutschsprachigen Leserschaft bislang weitgehend unbekannt geblieben. Zu seinem neuesten Buch inspirierten ihn die Erlebnisse seines Vaters, der während des Zweiten Weltkrieges als Royal-Airforce-Pilot Widerstandsgruppen in Südeuropa mit Nachschublieferungen unterstützte und dabei mit einem Agentenring unter dem Decknamen "Wheelwright" in Berührung kam. Darin wirkte auch Anne-Marie Walters alias Colette, eine von fünfzig Agentinnen der britischen Spezialeinheit SOE ("Special Operations Executive"), die 1941 bis 1944 auf französischem Boden tätig waren. Ihrem unerschrockenen Einsatz gegen das Naziregime hat Simon Mawer seinen Roman gewidmet. Seine (fiktionale) Protagonistin Marian Sutro alias Alice Thurrock alias Anne-Marie Laroche hat Ähnlichkeit mit Anne-Marie Walters und steht exemplarisch für all die anderen Frauen der SOE.
Für den britischen Geheimdienst muss Marian Sutro auf Grund ihrer Vita als ideale Partnerin erscheinen. Sie stammt aus einem Diplomatenhaushalt; der Vater ist Engländer, die Mutter Französin; Bruder Ned ist Naturwissenschaftler, ebenso wie der Physiker Clément Pelletier, ein Freund des Hauses. Sowohl Marians Sprachkenntnisse als auch ihr sicheres Auftreten auf dem gesellschaftlichen Parkett sind Vorbedingungen für ihre Anwerbung.
Den Ausschlag aber gibt ihre freundschaftliche Beziehung zu Clément, der mittlerweile in Frankreich am Joliot-Curie-Collège arbeitet. Seine Forschungen zur Kernspaltung sind von großem Interesse für die Briten. Intensiv ausgebildet und dann nach Frankreich geschleust, soll Marian Clément aufsuchen und ihn überzeugen, schnellstmöglichst nach London zu wechseln, ehe die Verfahren zum Bau einer Atombombe den Deutschen in die Hand fallen.
Der Roman beginnt mit Marians Flug von England nach Caën. Sie ist 19 Jahre alt und hat ihre allumfassende Ausbildung zum Einsatz als Agentin - die sie bis an ihre physischen und psychischen Grenzen getrieben hat - abgeschlossen. Gleich wird sie in dunkler Nacht zusammen mit Benoît, den sie während ihrer Schulungen kennenlernte, mit ihrem Fallschirm ins Ungewisse springen.
Der eigentliche Spionageplot - die Arbeit der völlig auf sich allein gestellten jungen Frau inmitten des von den Nazis besetzten Frankreichs - setzt erst nach gut der Hälfte des Romans ein. Bis dahin erleben wir sehr detailliert, wie sich das unscheinbare junge Mädchen zu einer kühl räsonierenden reifen Frau und professionell agierenden Spionin entwickelt. Niemandem darf sie trauen, muss bei Bedarf blitzschnell ihre Identität und ihre Bleibe wechseln, ihre Kontakte zu Mittelsmännern der Résistance ständig kritisch überprüfen und sich bei alldem so unauffällig wie möglich verhalten, denn überall lauern Verräter. Neben dem Fallschirmspringen beherrscht sie das Verschlüsseln von Geheimbotschaften, kann morsen, mit Waffen umgehen, Sprengsätze bauen - und für den außersten Notfall trägt sie immer eine Zyankali-Kapsel bei sich.
Das alles hat Marian auf sich genommen, um ihren Beitrag zur Beendigung des Krieges zu leisten. Daneben aber lockte sie die Aussicht, ihre zarte Jugendliebe Clément wiederzutreffen. Doch der hat nicht auf sie gewartet, wie sie vielleicht insgeheim gehofft hatte: Er ist verheiratet, hat ein Baby, und er hat sich verändert.
Simon Mawers kühl-distanzierter Sprachstil passt gut zu der ein wenig unnahbaren Protagonistin. In der eingeflochtenen Liebesgeschichte eröffnet sich dem Leser ein Blick in Marians Seele, in ihre Gefühlswelt. Zwar hat sie sich in Benoît verliebt, hofft aber auch immer noch, den ihr fremd gewordenen, rätselhaften Clément zurückzugewinnen. So steht sie zwischen zwei grundverschiedenen Männern - und verliert doch nie den Kopf, sondern verfolgt zielsicher ihre geheime patriotische Mission.
Mawers Spionagethriller bezieht seine Spannung weder aus rasenden Verfolgungsaktionen noch aus blutgefrierenden Situationen wie Verhaftungen, Verhören und Folterungen. Er schafft vielmehr eine beklemmende Düsternis, die aus der immerwährenden, kaum zu unterdrückenden und körperlich belastenden Angst der Protagonistin heraus entsteht: In ihrem lebensnotwendigen Misstrauen gegenüber jedem Menschen, mit dem sie zu tun hat, bleibt sie immer isoliert; mit der ständigen Gefahr der Entdeckung muss sie ganz allein leben.
Der Zweite Weltkrieg aus der Perspektive einer weiblichen Agentin ist ein interessantes und Spannung versprechendes Sujet. In der inhaltlichen Umsetzung ist Simon Mawers Roman vielleicht ein wenig zu einseitig und auf die persönliche, emotionale Ebene konzentriert. Zum Beispiel hatte ich etwas mehr Einblick in bzw. Überblick über den Kampf der Widerständler und das Ringen um die Atombombe erwartet.
"The girl who fell from the sky" wurde von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel ins Deutsche übersetzt.