Ach du arme Foltermagd!
Casey? Chris? Drew? Terry? Wie heißt denn nun die androgyne, abgebrühte Superheldin dieses Thrillers? Wie unsereiner seine Wäsche, so wechselt diese Person ihre Identität, je nachdem, wie sie die Gefahrenlage für ihr eigenes Leben einschätzt. Clever wie sie ist, wählt sie Allerweltsnamen, hinter denen eine Frau oder ein Mann stehen kann. Den Trick verdankt sie ihrem verstorbenen Mentor und einzigen Freund Dr. Joseph Barnaby.
Die Wechselumstände sind ratsam, seit sich Dr. Juliana Fortis – so heißt sie in Wirklichkeit – drei Jahre zuvor auf die Flucht begeben musste. Ihr Insiderwissen über schmutzige Anti-Terror-Einsätze amerikanischer Geheimdienste wurde ihr zum Verhängnis, wie schon ihrem Kollegen Barnaby. Der hatte siebzehn Jahre »für die Guten« in der Abteilung gearbeitet, ehe man ihn beseite räumte – und Juliana verstand, was auch ihr bald blühen würde.
Nach 9/11 waren die Vereinigten Staaten in Aufruhr. Die oberste politische Priorität der Terrorismusbekämpfung führte einen Ausnahmezustand herbei, in dem alles erlaubt schien, was weitere Angriffe auf das Land abzuwenden versprach. So hatten die Geheimdienste freie Hand, um Nachrichten zu manipulieren, Bedrohungen zu erfinden und Verdächtige in die Enge zu treiben.
Letzteres war Juliana Fortis' Aufgabe als Verhörspezialistin, und lange Jahre galt sie als Beste ihres Fachs. Ihr Methodenrepertoire kannte keine Begrenzungen, ihr Arsenal an Folterwerkzeugen (Spritzen, Bolzenschneider, Schweißbrenner ...) war umfangreich, und damit praktizierte sie den »schlimmsten Job der Welt«. Irgendwann aber überkamen sie Zweifel, und sie verlor den Glauben daran, dass sie »patriotische Arbeit« leiste. Bei ihren Auftraggebern fand das freilich keinen Zuspruch. Sie fiel in Ungnade, und allein durch glückliche Fügungen und ihr Talent zum perfektionierten Versteckspiel konnte sie ihren Verfolgern entkommen.
Warum also meldet sich nun ihr Ex-Chef Jules Carston bei ihr und tut ganz erleichtert, dass sie noch lebt? Klar, er hat ein Problem, und nur Julianas Expertise kann dem Geheimdienst aus der Bredouille helfen. Eine neue Dimension der Bedrohung ist aufgetaucht: Biologische Massenvernichtungswaffen könnten ganzen Städten den Garaus machen. Angesichts einer solchen Gefahr kann Juliana das Hilfeersuchen nicht ablehnen. Carston übergibt ihr die Akte über den Mann, der im Besitz eines tödlichen Virus sein soll. Er heißt Daniel Beach, ist 29 Jahre alt und Lehrer an einer Highschool – seit Breaking Bad bekanntlich keine gute Tarnung mehr.
Juliana – inzwischen übrigens »Alex« – kehrt in ihr Verhörlabor zurück, um den Verdächtigen nach allen Regeln ihrer Kunst das Fürchten zu lehren, bis er einknickt und das Geheimnis um die biologische Waffe offenlegt. Doch trotz unsäglicher Torturen bleibt der Mann bei seiner Unschuldsbehauptung. Ist der Kerl so unfasslich abgebrüht? Muss Alex-Chris-Juliana ihn noch härter rannehmen (was kaum möglich scheint, ohne sein Lebenslichtlein endgültig auszublasen), oder hat sie schlichtweg den Falschen gequält?
Aber keine Sorge: Stephenie Meyers Roman »The Chemist« (übersetzt von Andrea Fischer und Marieke Heimburger) ist wahrlich kein schockierender, brutaler Agententhriller, ebenso wie ihre sechs »Bis(s)«-Bücher keine blutrünstigen Vampir-Schocker waren. So nimmt die Handlung einen Fortgang, der in der Realität undenkbar, bei »Bis(s)«-Fans jedoch geläufig und beliebt ist. Der verdächtige Daniel sieht nämlich toll aus, erweist sich als einfühlsamer Charmeur, und schon ist zwischen der cool-rationalen Juliane und dem smarten Lehrer die Liebe entbrannt.
Hmm ... hat sie ihn nicht soeben fast plattgemacht? Ach, Schwamm drüber! Kaum hat er sich wie Lazarus vom Totenbett von seinem metallenen Schmerzenslager erhoben, von schweren Verletzungen am gesamten Körper gezeichnet, zeigt er schon vollstes Verständnis für Juliane alias Alex und ihre Arbeit. Sie kann ja nichts dafür, dass sie ihn halb umgebracht hat. Vielmehr hat der fiese Carston ihr eine manipulierte Akte untergeschoben. Daniel ganz mitfühlend: »Ich glaube dir nämlich. Ich weiß, dass du das nicht wolltest. Du wolltest nur helfen«. Und an anderer Stelle nickt er nachsichtig: »Ja, man hat es nicht leicht als Folterknecht.«
In diesem Roman ist kaum etwas ernst zu nehmen. Man versuche nur einmal, sich die Figur der Verhörspezialistin bildlich vorzustellen – eine junge Frau, die sich neurotisch gegen jegliches Risiko zu wappnen sucht und zur »wandelnden Apotheke«, zu einem Hochsicherheitstrakt auf zwei Beinen verkrümmt. Nachts ruht in ihrem Bett eine Doppelgänger-Puppe, während die echte Juliana in der Badewanne schlummert und durch den Absorptionsfilter einer selbst gepimpten Gasmaske atmet. Dabei würde ein Eindringling wohl nicht einmal ins Innere des Hauses gelangen, denn er würde dabei über einen raffinierten Mechanismus Gas freisetzen, das ihn binnen Sekunden aus dem Verkehr zöge. (Die Mixtur hat Alleskönnerin Juliana ebenfalls selbst gebraut.) Tagsüber verkleidet sie sich mit Perücken, Kappen, Brillen, Gürteln, Umhängetaschen und anderen unauffälligen Accessoires. Darin sind freilich Spritzen, Skalpelle, herausschnellende Klingen und dergleichen Gimmicks untergebracht, wie man sie von James Bond kennt. Und falls doch alles schief gehen sollte, braucht sie nur auf eine falsche Zahnkrone zu beißen, um sich eventuell drohenden Folterungen des Feindes zu entziehen.
Nein, all das ist keine witzige Karikatur, keine Hommage an Cartoons wie Superwoman und schon gleich keine intelligente Satire auf amerikanische Angst-Psychosen, sondern einfach nur eine unrealistische Lachnummer, die ein paar Klischees aus Politik und Terrorismusbekämpfung als beliebige Kulissen verbrät, um eine platte, klischeehafte Liebesgeschichte zu würzen. Das Grundrezept kennen wir schon: Zwei maximal gegensätzliche Menschen verlieben sich unsterblich ineinander, ihre Liebe überwindet alle Hindernisse. Für das Debüt im neuen Genre konnte sich Stephenie Meyers schriftstellerische Leistung darauf beschränken, wie gewohnt schlichtes Geplauder, lockere Sprüche und etwas Situationskomik zu mixen und dazu eine (wenigstens anfangs steile) Spannungskurve mit Wendungen im Handlungsgang zu konstruieren. Das Sechshundert-Seiten-Produkt ist durchwachsen: Der Schmöker wird die romantischen Regungen von Meyer-Fans in Wallung bringen, die Folterszenen werden sie frösteln, die politischen Winkelzüge schaudern, die coolen Dialoge schmunzeln lassen. Wer ein bisschen kritischer hinschaut, wird sich über die Oberflächlichkeit der Handlung und der Sprache, über die Naivität und Flachheit der Figuren und über die Unvereinbarkeit der Versatzstücke aus zwei Genres ärgern.
Als Juliana in Dr. Barnabys Unterlagen studierte, wie »echte Spione arbeiten«, stellte sie fest, dass sie das schon alles wusste – aus den vielen Krimis, die sie als Mädchen begeistert verschlungen hatte. Eine richtige Agentenausbildung braucht's da nicht mehr. Bleibt für ihr weiteres Wohlergehen nur zu hoffen, dass sie ihre Weltkenntnis nicht nur aus Krimis von Stephenie Meyer bezogen hat ...