
Wer einmal lügt ...
Krimis um psychopathische Serienmörder werden gern gelesen. Wenn sie gut gemacht sind, kann der Plot die Nerven gleich auf vier Ebenen strapazieren – einmal durch grausame Mordbeschreibungen, dann durch die Klippen der Ermittlungsarbeit, drittens durch die Ängste potenzieller Opfer und schließlich durch den zeitlichen Wettlauf zwischen dem Täter und seinen Verfolgern. Die amerikanische Juristin und Autorin Jilliane Hoffman beherrscht ihr Handwerk routiniert und solide, so dass ihr neuester Thriller gut unterhält, ohne jedoch mit innovativen Sensationen oder stilistischen Meisterleistungen zu glänzen.
Gleich im Prolog stellt sie ihren Protagonisten und sein titelgebendes Leiden vor. Insomnia, eine besonders schwere Ausprägung psychosomatisch bedingter Schlafstörungen, macht sein Leben schon seit der Pubertät zur Hölle. Kein Facharzt, kein Medikament, keine illegale Droge kann ihm erholsamen Schlaf spenden oder seine permanenten Spannungskopfschmerzen lindern, die selbst Essen und Denken zur Qual werden lassen. Eine organische Ursache konnte nie diagnostiziert werden – »alles war NORMAL.«
Er selbst weiß allerdings, dass er »eindeutig nicht NORMAL« ist. Bereits als Junge hatte er »hässliche Gedanken«, ergötzte sich an Filmen, in denen »Menschen mit Macheten zerhackt werden«. Als er der »Psychotante«, die ihn auf Drängen der Eltern therapieren sollte, sein düsteres Innenleben offenbart, genießt er, wie schwer es ihr fällt, die Fassung zu bewahren. Er hat sie in der Hand. Mit der Zeit reifen die bösen Gedanken zu einer Tat: Er tötet die Therapeutin auf grausamste Weise. Das Gemetzel – ein Schlüsselerlebnis – scheint seine Krankheit endlich zu mildern, denn »danach schlief er wie ein Baby und hatte lange Zeit keine Kopfschmerzen mehr«.
Wenn wir auf den folgenden Seiten erfahren, dass ein paar Jahre später ein Phantom sein Unwesen treibt und bereits neun junge Frauen zwischen vierzehn und neunzehn Jahren bestialisch ermordet hat, dann suggeriert die Autorin mit dem Holzhammer, dass sich hinter dem sogenannten »Hammermann« niemand anders als der Protagonist aus dem Prolog verberge. Aber dann verlagert sie den Erzählfokus erst einmal auf eine andere Person.
Die siebzehnjährige Mallory Knight ist nach einer Party mit Freunden verschwunden. So überbesorgt sich ihre Mutter bei ihrer Vermisstenanzeige gibt, so entspannt sind die Polizisten. Man kennt das ja, Teenager, die nach einer Dummheit für ein paar Tage abtauchen. Erst als ein paar Gegenstände aus Mallorys Besitz im Wald gefunden werden, mahlen die Mühlen der polizeilichen Ermittlungsarbeit engagierter, und die Spezialeinheit »Crimes Against Children Squad« wird eingeschaltet. Deren fähigster Special Agent ist Bobby Dees (bekannt aus »Mädchenfänger« , dem 2010 erschienenen ersten Band der Reihe), und in den Fall Mallory Knight möchte er unbedingt eingebunden werden. Denn nur zwei Jahre zuvor verschwand seine eigene Tochter spurlos. Er weiß also, wie sich das Leben von Eltern, deren Kinder Opfer eines Verbrechens wurden, von einem Tag zum andern in einen Scherbenhaufen verwandelt, er kennt ihre trostlosen Nöte, ihre verzweifelte Hoffnung auf das kleinste Lebenszeichen des vermissten Kindes.
Zunächst scheint sich der naheliegende Verdacht zu erhärten, dass Mallory Opfer des »Hammermanns« wurde – ein gefundenes Fressen für die Presse. Doch dann taucht das Mädchen, erbärmlich zugerichtet, in einem Truckstop auf und behauptet, von einem Mann mit »Skimütze auf dem Kopf« entführt, gefesselt, mit einem Messer traktiert und vergewaltigt worden zu sein, bis sie ihm endlich entkommen konnte. Bobby Dees kann die Geschichte des Teenagers freilich nicht ganz überzeugen. Er deckt Widersprüche darin auf, recherchiert kritisch weiter und kommt schließlich hinter Mallorys Geheimnisse. Damit wird die medial gehypte Story vom armen Opfer, das sich heldenhaft befreien konnte, zu einem Bumerang, der die ganze Familie trifft. Sie verkaufen ihr Haus, ziehen in eine andere Gegend, und die Tochter nimmt eine neue Identität an.
Doch vier Jahre später erlebt Callie Monahan, wie Mallory sich jetzt nennt, eine böse Überraschung. Jemand treibt ein infames Spiel mit ihr. Vielleicht der »Hammermann«? Der ist nämlich noch immer nicht identifiziert, sondern frei und fleißig. Mindestens achtzehn Mädchen hat er inzwischen getötet, ohne dass die Polizei der erbosten Öffentlichkeit die geringsten Erkenntnisse bieten kann. Soll Callie/Mallory sein nächstes Opfer werden? Allerdings ist es schwierig für die überspannte junge Jura-Studentin, Gehör und Hilfe zu finden, denn sie hat ein Glaubwürdigkeitsproblem ...
Nach dem vielversprechenden frühen Auftritt des Psychopathen lässt Jilliane Hoffman ihre Leser lange zappeln, bis der Täter zuschlägt. Gut, dass sie, um uns in der Zwischenzeit zu fesseln, mit der jungen Mallory eine interessante Persönlichkeit erdacht und überzeugend charakterisiert hat. Eine Notlüge verändert ihr weiteres Leben tiefgreifend, ohne dass ihr eine Chance bleibt, es noch einmal in die Hand zu nehmen.
Sophie Zeitz und Stefanie Kremer haben »The girl who cried monster« aus dem Amerikanischen übersetzt, doch ist es mir nicht gelungen, im Internet irgendeinen Link zu den Originalausgaben zu finden. Das Werksverzeichnis im amerikanischen Wikipedia-Artikel über Jilliane Hoffman führt die beiden Bobby-Dees-Thriller nicht einmal auf. Sind sie in den USA jemals auf den Markt gekommen?