Pech, Spaß, Irrwitz oder Tragik?
Über fünfhundert Seiten lang fabuliert Steve Toltz atemlos und abgedreht von zwei bemitleidenswerten Tröpfen, die eine verborgene zynische Schicksalsmacht badewannenweise mit Pech überschüttet. Die Skurrilität der Situationen und Episoden und der witzige Erzählton sollen über die Tragik ihrer Vita und die Absurdität der menschlichen Existenz hinweghieven.
Liam Wilder, der Ich-Erzähler, wird seit Highschool-Tagen von einem heißen Wunsch getrieben: Ein erfolgreicher Schriftsteller will er sein. Zuspruch erhält er von seinem unorthodoxen Kunstlehrer, der selber nie ein Kunstwerk, wohl aber ein Lehrbuch voller widersprüchlicher Ratschläge zustande gebracht hat. Darin sucht der junge Mann Orientierung, um den »erleuchteten Weg durch die Dunkelheit« zu finden. Doch die Jahre vergehen, ohne dass Liam etwas zuwege bringt – »ein Leben in der Warteschleife«. Was er zu exotischen Themen (»die Beulenpest, blinde Passagiere, Narkolepsie oder zwei Bucklige«) oder aus eigener Erfahrung (»Liebesabenteuer mit Bisexuellen beiderlei Geschlechts«, Jobs, die normalerweise von illegalen Einwanderern oder von Häftlingen auf Freigang erledigt werden) niederschreibt, findet keine Gnade vor den überzogenen, unerfüllbaren Ansprüchen, die er an sich selbst und seinen Erstling stellt.
Mit dreißig will Liam – inzwischen verheiratet und Vater einer Tochter – einen letzten Versuch wagen, als Schriftsteller zu reüssieren. Einen Plot hat er aus seinen tiefsten persönlichen Abgründen exhumiert: Seine Schwester Molly kam ums Leben, als ein Polizist sie in Ausübung seines Amtes mit dem Auto überrollte. Leicht variiert – der Cop als Mörder statt als Unfallfahrer – findet Liam das ein zündendes Konzept. Um den Roman besonders authentisch gestalten zu können, besucht er eine Polizeischule, mit dem Nebeneffekt, dass er sich nach sechsmonatiger Ausbildung als Polizeibeamter in New South Wales qualifiziert hat. Nichtsdestoweniger lehnen sämtliche Verlage Australiens das daraus erwachsene Manuskript ab. Am Ende dieses weiteren tristen Kapitels finden wir Liam, der so gar nichts vom Biss eines Gesetzeshüters hat, in einem Job, den er ohne Ende hasst.
Mit dem Tag seiner Vereidigung zum Constable Wilder wird Liam zum Dauerhelfer seines alten Schulfreundes Aldo Benjamin, der zweiten Hälfte des Protagonistenduos. Seit der Highschool hat Aldo in fünfzehn Jahren nichts als Chaos angerichtet: unzählige irrwitzige Unternehmen gegründet, unermessliche Schuldenberge angehäuft, Gläubiger aller Art auf seine Spur gelockt, kein kriminelles Fettnäpfchen ausgelassen. Heruntergekommen, von Minderwertigkeitskomplexen gequält und von seiner über alles geliebten Stella geschieden, schleppt sich Aldo mühselig durch sein Dasein.
Nur gut, dass er nicht weiß, wieviel Schlimmeres das Schicksal noch für ihn bereithält. Er wird Eintagsinsekten um ihr schnelles, aber sicheres Ende beneiden, er wird sich wünschen, »entschaffen« zu werden, er wird nach einer Reihe erfolgloser Selbstmordversuche einen doppelt todsicheren unternehmen. Doch wir ahnen schon: Was sich der Autor für seinen armseligen Unglücksraben an Unerträglichem ausgedacht hat, sprengt schier unsere Vorstellungskraft. Indes: Alles hat zwei Seiten. Für Liam birgt das Elend des Freundes, der ihm permanent Hilfe suchend auf die Pelle rückt, eine erneute Chance, seinen Herzenswunsch zu realisieren und dem ungeliebten Brotjob zu entfliehen. Aldo wird zu seiner Muse.
Steve Toltz' Roman »Quicksand« (übersetzt von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel) hat drei Teile. Im ersten werden die beiden Freunde und ihr absurd-chaotisches Leben sehr unterhaltsam präsentiert.
Der zweite Teil (»Der Wahnsinn der Muse«) porträtiert Aldo als »Querschnittsgelähmten, den Poeten, den Vergewaltiger, den Mörder, den Religionsunternehmer und falschen Propheten«. Im Rollstuhl vor Gericht, des Mordes und der Vergewaltigung angeklagt, schildert er den Geschworenen seine Lebensgeschichte als tragischen Prozess, bei dem der sichere Untergang bereits vorgezeichnet schien. Seine endlosen wortgewaltigen, aberwitzigen Monologe gehen bis an die Schmerzgrenze, wenn er die Zeiten im Krankenhaus und im Gefängnis, seine Nöte und Ängste, seine Selbstmordgedanken ausbreitet und als letztes Beweisstück die Niederschrift eines Zwiegesprächs verliest, das er mit einer Stimme, die ihm als eine Art Gott vorstellbar wäre, führte. Freilich wittert nicht nur Liam hinter der aufwändigen, live im Internet-Stream verbreiteten Verteidigungsinszenierung eine geniale Verkaufsstrategie.
Der dritte Teil (»Eine Seuche von Einzelfällen«) versöhnt mit manch anstrengender Kost im Mittelteil. Übersättigt von vielen Seiten voller überbordender Fantasie, ausufernden Szenen und weitläufigen Philosophastereien, stößt unser Interesse an natürliche Grenzen. Doch dann dreht der Autor noch einmal richtig auf und verwirbelt seine Handlungsfäden bis zum Schluss. Aldos »Lebensvorrat an Ängsten« ist aufgebraucht, befreit lebt er als Eremit auf einem Inselchen. Scharen skurriler Typen pilgern von überall herbei, um ihn zu sehen, zu hören oder gar zu berühren. Wenn Stille einkehrt, vernimmt mancher Anbeter ein »fernes Zähneknirschen oder unterdrücktes Schluchzen oder seine an Gott gerichteten Schmähungen«. In Wahrheit hat Aldo sein Unternehmertum immer auf dem Schirm.
Unter dem Eindruck von Aldos gequälten Grimassen und dem Funkeln des Bösen in seinen Augen hält Liam seinen Freund mittlerweile für verrückt. Aber als Romansujet will er nicht von ihm lassen. Doch da nimmt ihn die schnöde Pflicht ernsthaft in Beschlag: Er muss in einem Mordfall ermitteln ...
Steve Toltz ist im deutschsprachigen Europa noch unbekannt. Mit seinem offenbar unerschöpflichen Fundus an kreativer Fantasie, sinnvollen und sinnfreien Einfällen, realistischen und abgedrehten Handlungselementen, all dies von frischer Originalität, erzählt mit farbenfrohem Ausdruck und durchweht von scharfem Sarkasmus, hat er das Zeug, um als Geheimtipp gehandelt zu werden. Leider allzu verschwenderisch und unkritisch überschüttet er seine Leser mit Säcken voller Miniaturen. Nicht wenige von ihnen gehen in der Flut unbeachtet unter, dabei könnte mancher Autorkollege jede einzelne zu einem schimmernden Schmuckstück herausarbeiten. Für Toltz' nächstes Buch würde ich mehr Konzentration und Straffung wünschen.