Rezension zu »Gott, hilf dem Kind« von Toni Morrison

Gott, hilf dem Kind

von


Belletristik · Rowohlt · · Gebunden · 208 S. · ISBN 9783498045319
Sprache: de · Herkunft: us

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Keine Hoffnung auf Besserung?

Rezension vom 20.06.2017 · 15 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Was Toni Morrison, Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 1993, in ihrem Roman »Gott, hilf dem Kind« erzählt, verstört zutiefst. Man gewinnt den Eindruck, dass sich in sieben, acht oder mehr Jahr­zehn­ten nichts, aber auch gar nichts verändert habe, als sei die amerika­nische Bürger­rechts­bewe­gung der Sechziger­jahre folgen­los verklun­gen, als sei Barack Obamas Präsident­schaft nicht die Spitze eines Eisbergs, sondern nur eine Seifen­blase gewesen, bis sein hemds­ärmelig-plumper Nach­folger sie per Dekret platzen lässt und die alten Unge­rechtig­keiten verewigt. Muss man jetzt nicht befürchten, dass auch noch die letzten dünnen Firnis­schich­ten von Anstand, die Amerikas Schwarze geschützt haben mögen, achtlos wegge­wischt werden?

Wir lesen von Menschen, die durch Rassen­hass, Miss­brauch, Gewalt, Verrat und Aus­beutung seelisch verformt oder verkrüp­pelt sind. Da sie keine Alterna­tiven kennen­gelernt haben, tragen sie die Ursachen ihres Leids selbst weiter und erzeugen, selbst wenn sie nach Liebe suchen, neues Leid bei ihren Mit­menschen, auch bei den ihnen am nächsten Stehen­den. Die Autorin gönnt zwar zwei ihrer Protago­nisten ein mildes Happy End, aber einen Weg aus dem Teufels­kreis kann das nicht aufzeigen.

Die Ereignisse des dreiteiligen Romans werden aus den alternie­renden Perspek­tiven von fünf Frauen erzählt: Sweet­ness, Bride (ihre Tochter), Brooklyn (Brides beste Freundin), Sofia (Brides Lehrerin) und das Mädchen Rain. Einzig die Geschichte von Booker (einem Freund Brides) und seinem Bruder wird in der distanzier­teren 3. Person eines allwis­senden Erählers vermittelt. Sweet­ness macht als junge Mutter den Anfang und beschließt den tristen Reigen des viel­stimmi­gen Romans als Heim­bewohne­rin.

Die Diskriminierung der Schwarzen hat absurde Blüten getrieben. So liegen beispielsweise bei Trauun­gen in den Standes­ämtern zwei Bibeln aus, eine, die »für Neger reserviert war. Die andere war für die Hände der Weißen«. Es verwundert nicht, dass die »Gelben« (Halb- und Viertel­misch­linge) über ihre helle Haut glücklich sind, denn damit konnten sie sogar als Weiße durch­gehen. Sweet­ness ist eine solche sehr helle Farbige und stolz darauf. Umso größer sind ihr Schrecken und ihre Enttäu­schung, als sie ihr Neuge­bore­nes betrach­tet. Ausge­rech­net in der heikels­ten Eigen­schaft, wenn man in einer Gesell­schaft der Segre­gation lebt, unter­scheidet sich Tochter Lula Ann in furcht­erregen­dem Ausmaß von ihren Eltern: Mit einer Haut so schwarz wie Teer, dazu einer Augen­farbe, die »etwas Hexen­haftes« hat (»raben­schwarz mit einem Stich ins Blaue«), löst der Säugling bei seiner schockier­ten Mutter einen Moment lang höllische Impulse aus. Sie wirft eine Decke über den Kopf der unschul­digen Kleinen, bringt das Äußerste dann aber doch nicht fertig. Der Kinds­vater erkennt das Baby nicht als seines an und setzt sich ab.

Permanente Gefühlskälte prägt Lula Anns Kindheit. Das »kleine Neger­lein« an ihrer hellen Brust zu stillen ist der jungen Mutter wider­wärtig. Niemals will sie »Mama« genannt werden, sondern bei ihrem Namen; das versteckt ihre Bluts­verwandt­schaft. Wenn die Leute der hübschen jungen Frau mit dem Kinder­wagen begegnen und sich, darin etwas ebenso Süßes erwartend, darüber beugen, wenn dann auf einmal ihr Gesicht erstarrt und die Kose­wörter fürs Baby ihnen im Halse stecken bleiben, dann soll wenigstens Sweet­ness (»Ich kann nichts dafür«) rein bleiben.

Sweetness' Erziehung besteht aus lauter strafenden Grau­sam­keiten. Sie glaubt zum Besten des Kindes zu handeln, um es auf sein zukünf­tiges Leben als diskrimi­nierte Farbige vorzu­berei­ten. »Ihre Farbe ist ein Kreuz, das sie immer zu tragen haben wird«, also ist es am besten, aus Selbst­schutz wegzu­tauchen, gar nicht erst aufzu­fallen. Das Mädchen wehrt sich nicht, nimmt die brutalen Schläge, wie sie fallen. Es sehnt sich nach liebe­vollem Körper­kontakt und nimmt die kräf­tigen Ohr­feigen als solchen hin.

Als junge Erwachsene aber entscheidet sich Lula Ann für den gegen­teiligen Weg, die selbst­bewusste Offen­sive. Sie nennt sich Bride, kontras­tiert ihre dunkle Haut­farbe mit strahlend weißer Kleidung, wird von der Kosmetik­industrie zu einem Schön­heits­ideal stilisiert und als Ikone vermark­tet. Aus dem »Neger­lein« wird der »Panther im Schnee«, aus dem »Kreuz« ein reicher Geld­segen. Brides Produkt­linie »You, Girl« ist eine Erfolgs­geschichte.

Nicht so Brides Privatleben. Ihr Geliebter Booker verlässt sie. Sie recher­chiert ihm nach und findet heraus, dass er schwer trauma­tisiert ist, denn sein Bruder wurde miss­braucht, bestia­lisch gefoltert und ermor­det. Die Gemein­samkeit belas­tender Kind­heits­erleb­nisse führt Booker und Bride wieder zusam­men.

Neben dem allgegenwärtigen Rassismus ist Kindes­miss­brauch die zweite Geißel in der trost­losen Welt dieses Buches. Bookers Bruder ist keines­wegs das einzige Opfer – auf den relativ wenigen Seiten dieses episo­disch dicht gepack­ten Romans lesen wir noch von etlichen weite­ren, und eine Untat ist abscheu­licher als die andere. Die Täter sind über­wiegend weiß, die Opfer schwarz. Besonders trist, welch frag­würdige Rollen die Frauen spielen: Sie ver­schließen die Augen, agieren selbst roh, herzlos, aggressiv und gewalt­tätig, und im schlimms­ten Fall schlagen Mütter Kapital aus dem Leid ihrer eigenen Kinder.

Wer trägt Schuld an solchen Zuständen? Die Erzählerinnen argumen­tieren und recht­fertigen ihr Tun ausgiebig, aber die Multi­perspek­tivität relativiert ihre Ansichten. Von der Justiz zur Rechen­schaft gezogen und verurteilt wird ledig­lich eine Lehrerin, nach­dem Lula Ann sie vor Gericht schwer belastet hat – aber wie zuver­lässig ist diese Zeugin? Und das Mädchen Rain, von der Mutter zu Sex-Dienst­leistun­gen gezwun­gen, setzt sich mit ihren Zähnen zur Wehr. Das verdirbt der Mutter das Geschäft, die Rechnung aber muss das Kind selbst bezahlen, denn unver­käuf­lich wie es ist, wird es kurzer­hand vor die Tür gesetzt.

Obwohl Toni Morrison einen präg­nanten, schnörkel­losen, der Alltags­sprache nahen Sprach­stil pflegt (Überset­zung: Thomas Piltz), ist die Lektüre nicht einfach. Die Autorin gönnt uns keine Zuver­sicht. Bis zur Uner­träglich­keit reiht sie Episoden frag­würdi­gen bis wider­wärtigen Ver­haltens anein­ander. Etliche dieser Handlungs­fäden werden nicht zu Ende geführt und nie mehr aufge­griffen, erschei­nen daher wie Staffage fürs Grusel­thema. Die Menschen, die unter den geschil­derten Be­dingun­gen jenseits ihres Ein­flusses aufge­wach­sen sind und leben müssen, müssen verzwei­feln, richten ihren abgrün­digen Hass auch gegen sich selbst, Aggres­sion und Gewalt sind Ventile für den Druck, unter dem sie perma­nent stehen.

Das Übermaß des Schreckens und die Ein­dimen­siona­lität des Gesell­schafts­bildes führen beim Leser leicht zu Über­druss, womit die Autorin die Kraft ihrer Anklage schmälert. Einzig die Geschichte von dem schönen, erfolg­reichen Mädchen Bride, die auszog, um ihren Lover wieder­zufin­den, ist ein wenig sentimental und voller Abenteuer. Ein modernes Märchen mit einer moder­nen Prinzessin. Doch zu viele Bitter­stoffe vergällen den Geschmack dieses Beinahe-Happy-Ends.

Der amerikanische Originaltitel – »God help the child« Toni Morrison: »God help the child« bei Amazon (»Gott helfe ...« oder »Möge Gott ... helfen« oder gar »Nur Gott kann ... helfen«) – drückt eine fatalis­tischere und pessimis­tischere Haltung aus als der deutsche Impe­rativ an den All­mächti­gen, der retten soll, wo also noch etwas zu retten ist. Daran aber mag man am Ende dieses Buches kaum noch glauben.


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