Joints statt Tramezzini
Seit acht Monaten darbt Rocco Schiavone nun schon in dem verhassten, ungastlichen norditalienischen Provinzstädtchen, in das man ihn strafversetzt hat. Ringsum nichts als enge, karge, menschenleere Täler zwischen schroffen Bergketten, und auch im grauen Aosta selbst ist, verglichen mit seinem bisherigen Dienstort Rom, rein gar nichts los. Die Ödnis kriecht bis hinein in die Bars: Dort bieten sie nicht einmal tramezzini feil, die Sandwiches, mit denen man den kleinen Appetit zwischendurch stillen könnte.
Nichts liegt dem unfreiwilligen Gast ferner, als sich mit seiner Verbannung abzufinden. Lieber hadert er unentwegt mit seinem Schicksal, selbst wenn er in aussichtslosen Kämpfen zum ewigen Verlierer und Miesepeter wird. Weder der heimliche frühmorgendliche Joint in der Questura noch die gut vernehmlich ausgestoßenen Flüche (»verfickte Scheiße«) können etwas ausrichten gegen Roccos aus Prinzip schlechte Laune. Nach dem langen Winter hat Dauerregen das Regiment übernommen, jetzt im Mai sorgt Schneetreiben für Abwechslung. Allen Unbilden des rauen Klimas zum Hohn trägt er bockig seinen denkbar inadäquaten Lodenmantel, verschleißt trotzig seine Clarks-Herrenslipperchen, fein und dünn, weil für römisches Pflaster, nicht aber für alpine Klettersteige erschaffen. Irgendwann wird das Leiden hier oben doch ein Ende haben, und sei es in Form einer erneuten Strafversetzung. Nur auf seinen Traum, sich in der Provence niederzulassen, seine faule Haut in die Sonne legen zu können, wird er wohl noch länger warten müssen.
Und dann soll man noch arbeiten ... Da ist ein Lieferwagen von der Straße abgekommen, die beiden Insassen wurden tödlich verletzt, weil aber Nummernschild und Papiere nicht zusammenpassen, steckt offenbar noch ein Fahrzeugdiebstahl dahinter. Also wird wohl nichts aus ciao und ab mit der Unfallakte in die »Erledigt«-Ablage. Stattdessen stehen für das Dreamteam der Questura anspruchsvolle Ermittlungen an.
»Dick und Doof« (das sind die Agenti D'Intino und Deruta) entsorgt ihr Chef als erstes in die Pampa, damit sie ihm nicht auf die Nerven gehen. »Missing in action« – so gefallen ihm die beiden Dödel mit dem IQ eines Orang-Utans am besten. Einzig auf Agente Italo Pierron kann er sich verlassen. Dessen Techtelmechtel mit der Staatsanwältin Caterina Rispoli hat sich inzwischen zu einem Liebesverhältnis verfestigt, über das sich die gesamte Staatsanwaltschaft amüsiert, seit eine Überwachungskamera ein heimliches Stelldichein der beiden Turteltäubchen für die Ewigkeit gespeichert hat. So treffen wir all die Typen, die wir in zwei Vorgängerbänden umso lieber gewonnen haben, je mehr sie dem grantigen Vicequestore (man nenne ihn bloß nicht Commissario ...) von Anfang an auf den Geist gingen, in »Alte Wunden« wieder. Und ein Neuer ist hinzugekommen: Seit Dezember tut Agente Antonio Scipioni Dienst in Aosta, und – oh Wunder – Rocco hält ihn für ganz »brauchbar«.
Eine vertrackte Aufgabe erwartet die Ermittler. Die fast neunzehnjährige Chiara wurde nach einem Disko-Abend entführt und wird jetzt irgendwo in einem finsteren Keller versteckt gehalten, auf einen Stuhl gefesselt, mit einer Haube über dem Kopf, ohne Essen, ohne Trinken. Die Zeit drängt also. Doch seltsam: Ihre Eltern haben sie nicht einmal als vermisst gemeldet. Werden die vermögenden Bauunternehmer womöglich erpresst? Zuletzt soll es Zahlungsschwierigkeiten gegeben haben. Derweil geht im Kindermodengeschäft Biribimbi auch nicht alles mit rechten Dingen zu. Während vorn im Laden Strampler über die Theke gehen, läuft im Hinterzimmer die Geld-Waschmaschine ...
Viele Verdächtige und viele Spuren lassen Rocco Schiavone nicht zur Ruhe kommen. Am Telefon meldet sich eine Stimme mit kalabresischem Dialekt, was auf organisiertes Verbrechen hindeuten mag. Andererseits rückt selbst Chiaras Onkel ins Visier der Ermittlungen – also vielleicht eher eine Familienaffäre? Der Chef arbeitet rund um die Uhr bis zur Erschöpfung und erwartet von seinen Untergebenen den gleichen Einsatz, um Chiara aufzuspüren. Denn wie lange kann ein Mensch ohne Flüssigkeit und Nahrung in einem dunklen Loch überleben?
Wie gewohnt hat Antonio Manzini seinen Krimi clever strukturiert, ohne das Geschehen übertrieben zu verklausulieren. Der Plot vollzieht sich im engen Rahmen von vier Tagen, die mit etlichen Handlungsfäden dicht gepackt sind. Erzählt wird in gut überschaubaren Kapitelchen, unterbrochen von kursiv abgesetzten Selbstgesprächen, in denen Rocco mit seiner verstorbenen Frau räsonniert, sowie von Episoden aus zwei weiteren, unregelmäßig aufgegriffenen Strängen. Während der eine in direktem Zusammenhang mit dem aktuellen Fall steht, erhält der andere erst am Ende des Romans seinen inhaltlichen Sinn.
Der dritte Teil der Rocco-Schiavone-Reihe toppt die beiden vorangegangenen Bände. Der eigenwillige Protagonist überschreitet, um seine Ermittlungen voranzutreiben, dieses Mal sogar die Grenzen der Legalität und erlaubt sich einen Autodiebstahl und einen Einbruch. Die Handlung ist spannend und wendungsreich und endet mit einem grausamen Hinrichtungsmord als Cliffhanger – Fortsetzung folgt!
Aktuelle Übersicht über die bislang erschienenen Bände von Antonio Manzinis Rocco-Schiavone-Reihe (alle Übersetzungen: Anja Rüdiger):
Band 1: »Pista nera« (2013)
• »Der Gefrierpunkt des Blutes« (2015) [› Rezension]
Band 2: »La Costola di Adamo« (2014)
• »Die Kälte des Todes« (2016) [› Rezension]
Band 3: »Non è Stagione« (2015)
• »Alte Wunden« (2017) [› Rezension]
Band 4: »Era di maggio« (2015)
Band 5: »Cinque indagini romane per Rocco Schiavone« (Erzählungen, 2016)
Band 7: »Pulvis et umbra« (2017)
Band 8: »L’anello mancante. Cinque indagini di Rocco Schiavone« (2018) [› Rezension]