Allein - aber nicht einsam
Stewart O'Nans Roman "Emily, allein" ist ein ganz zarter, stiller, zurückhaltender, bescheidener Roman. Im Mittelpunkt steht die 80-jährige Emily Maxwell, die in einem einstmals repräsentativen, gutbürgerlichen Haus in Pittsburgh wohnt. Ihr Mann Henry verstarb vor ein paar Jahren an Krebs, die Kinder Margaret und Kenneth leben mit ihren Familien zu weit weg, als dass man sich mal eben treffen könnte. Geblieben sind ihr – neben dem immer dicker werdenden Spaniel Rufus – die einzigen festen Bezugspersonen Arlene, ihre Schwägerin, mit der sie so gut wie täglich zusammentrifft, und Betty, die mittwochs zum Putzen kommt. Emily kann sich mit ihrem Zustand durchaus glücklich schätzen: Zwar nimmt sie besorgniserregend ab und ist ein bisschen gebrechlich, aber im Großen und Ganzen ist sie gesund und geistig rege. Natürlich ist sie sich der unvermeidlichen Tatsache bewusst, dass die ihr verbleibende Lebensspanne immer kürzer wird.
Wir begleiten Emily ein Stück ihres Wegs von der Weihnachtszeit bis zum Sommer. Ihr Alltag ist nicht spektakulär, alles läuft, ruhig aber beständig dahin. Sonntags besucht sie mit Arlene den Gottesdienst, dienstags gehen sie zum Brunch in ein kleines Lokal, und ab und an besuchen sie den Club, in dem Henry viele Jahre lang Mitglied war.
Wie sehr sehnt sich Emily nach ihren Kindern und ihren Enkeln! Ein Anruf, ein Postkärtchen, das würde sie glücklich machen. Aber sie will sich niemandem aufdrängen, und ihr Verhältnis zu Tochter Margaret ist auch seit Jahren belastet. Die ist geschieden, war lange alkoholabhängig, ist oft arbeitslos und kann sich finanziell nur so gerade über Wasser halten. Sohn Kenneth hat ein besseres Los gezogen, als er Lisa, eine Tochter aus sehr reichem Hause, heiratete. Emily jedoch ist Lisas Welt der feinen Kreise am Cape Cod fremd. Zeitlebens war sie eine sparsame, prinzipientreue, ordentliche Frau, die, ganz old-fashioned, zum Beispiel noch Wert auf Weihnachtspost legt. Über die Jahre hin hat sich ihr Eindruck bestätigt und verfestigt, Lisa enthalte ihr Sohn und Kinder bewusst vor und spreche Einladungen zeitlich so knapp aus, dass Emily ihnen gar nicht nachkommen kann. Nun hofft Emily, dass ihr größter Wunsch in Erfüllung gehen möge: Wenn doch die ganze Familie zum gemeinsamen Weihnachtsfest nach Pittsburgh kommen könnte ...
Es sind die leisen, ruhigen Töne, die in Stewart O'Nans Roman (übersetzt von Thomas Gunkel) so bestechend wirken. Mit welchem Respekt, mit welch zärtlicher Hinwendung er sich der alten Dame widmet, ist geradezu ein Geschenk für die vielen älteren Menschen, die sich mit ihrem Alleinsein abfinden müssen und dennoch wie Emily das Beste daraus machen.
Bisher habe ich noch keinen Roman dieser Art gelesen. Es gibt jede Menge sehr gute Literatur, die sich mit dem würdevollen Sterben auseinandersetzt, ebenso wie fragwürdige Werke, die sich auf Kosten der Alten lustig machen.
"Emily allein" ist inhaltlich schlicht, aber bestechend sensibel für die kleinen Dinge, die das Leben ausmachen können.