Mörderische Partyspiele
1960, fünfzehn Jahre nach ihrer Reifeprüfung, ist es endlich soweit: Der Arzt Dr. Haller hat ein Ehemaligentreffen initiiert und die sechs alten Klassenkameraden in sein Landhaus in der Nähe von Pécs (Ungarn) geladen. Was ist aus ihnen geworden, wie sehen sie wohl aus?
Neben dem Gastgeber sind anwesend: Hauptmann Beke, ein hohes Tier der Spionageabwehr; Baksay, Journalist, und Vértes, Literat, zwei Geisteswissenschaftler, die sich schon in Schulzeiten nicht grün waren; der Biochemiker Decsi, ein Fachmann der Nuklearforschung; schließlich Schwabik, der Apotheker. Zu der Herren Freude bereichern einige Damen die traute Runde: Hallers Gattin Magda, Schwabiks Ehefrau Márta, Sprechstundenhilfe Stefi sowie die schöne Balletttänzerin Bea.
Lange haben sie einander nicht gesehen, und weit haben sie sich in all den Jahren voneinander entfremdet. Ein paar Drinks und ein beschwingtes Tänzchen lockern die Atmosphäre, bis man am Ende »Mörder und Detektiv« spielt. Karten werden gemischt und verteilt, und der, dem die Detektivrolle zufällt, muss den Raum verlassen. Im Dunkeln lässt sich’s schön munkeln, und so meuchelt der zuvor ausgeloste Mörder eine Spielperson. Nach gebührend entsetzlichem Schrei betritt der Detektiv den Raum, um den hinterhältigen Täter zu enttarnen.
Das geht zwei Mal gut, und auch beim dritten Durchgang liegt Bea, die Tänzerin, ganz vollendet ungrazil (»wie eine erwürgte Amsel«) auf dem Boden. Doch da ist sie schon mit eingedrückter Kehle den »echten Tod« gestorben; der Salon zu ihrer letzten Bühne geworden, und deren schönster Applaus erreichte nimmer ihre Ohren.
Der Zufall hat für diese fatale Runde Beke zum Detektiv bestimmt. Auf professionelle Weise übernimmt er seine Aufgabe, für die er schließlich prädestiniert ist. Er sammelt erste räumliche Eindrücke, nimmt die spontanen Aussagen der verschreckten Anwesenden auf und entschwindet schließlich zu systematischen Einzelverhören in Dr. Hallers abgetrenntes Behandlungszimmer.
Indem er dort ihre Vermutungen hinterfragt, staunen wir Leser nicht weniger als er, denn jeder von ihnen hat etwas zu verheimlichen, und diverse Verbindungen zwischen einzelnen Beteiligten werden enthüllt. Ein dunkles Geschäft sollte eingefädelt werden; eine Person ist eifersüchtig; eine andere ist nicht die, als die sie sich ausgibt – oder ist sie das vielleicht am Ende doch? Ein Antisemit hat eine Jüdin geheiratet, die sich mit falscher Identität in Sicherheit wähnte – oder ist sie eine Faschistin? Oder ist alles ein Komplott der Geheimdienste?
Ganz schön wirr und gleich einem Mikadospiel verläuft diese Suche nach dem Mörder und seinem Motiv. Kaum hat man ein Hölzchen hypothesenhalber vorsichtig angehoben, schon droht alles zusammenzustürzen; ein anderes Hölzchen lockt mit seiner vermeintlich sichereren Prognose, doch ach – schon ist wieder alles verrutscht.
Misstrauen, Lügen und Täuschungen bestimmen den Verlauf, so wie es schon das Cover verspricht, auf dem ein Löffel den Schatten einer Gabel wirft. Selbst der Schluss ist noch anstrengend aufzudröseln, und die wirklich befriedigende Klarheit eines schlierenfreien Durchblicks hat man auch am Ende nicht.
Die Protagonisten sind ein Abbild der besseren Gesellschaftsschicht im sozialistischen Ungarn zu Anfang der 60er Jahre, die Reisefreiheit und andere Privilegien genießt. Mit seinem angenehmen, unterhaltsamen Sprachstil verschafft Szilárd Rubin ihnen individuelle Profile mit kleinen Macken: Der Journalist echauffiert sich bis hin zu »Mordgelüsten« über Druckfehler in seinem veröffentlichten Zeitungsartikel, und der Dichter gibt sich als Bohemien, droht aber an seinem Geiz zu ersticken. Ausgerechnet der Geheimdienstler Beke ist ein Muster der Rechtschaffenheit …
Szilárd Rubins Kriminalroman »Die Wolfsgrube« wirkt inhaltlich vielleicht ein wenig angestaubt – mit seinem zentralen »Mörder und Detektiv«-Partyspiel ist es ein klassischer Whodunit in Agatha-Christie-Manier. Das verwundert nicht, denn geschrieben wurde der Roman (»Mulatság a farkasveremben«) bereits 1973. Erst jetzt erscheint das Buch in deutscher Übersetzung (von Timea Tankó) bei Rowohlt.
Der ungarische Autor Szilárd Rubin verstarb 2010. Erst 2004 wurde in Ungarn seine 1963 verfasste »Kurze Geschichte von der ewigen Liebe« wiederentdeckt – ein Werk, das die FAZ überschwänglich lobt: »Ihm gebührt ein Platz unter den aufregendsten Liebesromanen des 20. Jahrhunderts, auf Augenhöhe mit Scott Fitzgeralds ›Der große Gatsby‹.«