Rezension zu »Was wir nicht wussten« von TaraShea Nesbit

Was wir nicht wussten

von


Belletristik · Dumont · · Gebunden · 256 S. · ISBN 9783832197353
Sprache: de · Herkunft: us

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Trivialitäten aus der Werkstatt des Todes

Rezension vom 15.02.2016 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Wir ziehen in den Südwesten! Diese Botschaft brachten im Sommer 1943 etwa zwei Dutzend ameri­ka­nische Ange­stellte mit nach Hause. Der Umzug war vom Arbeit­geber ange­ordnet – der US-Regie­rung. Die Männer waren hoch­quali­fizierte und spezia­lisierte Wissen­schaftler, ihr Auftrag ambi­tioniert, von welt­histo­ri­scher Bedeu­tung und dringend: eine funk­tions­fähige Atom­bombe zu ent­wickeln, ehe feind­liche Mächte ihnen zuvor­kommen und die USA damit be­drohen konnten. Mit dieser Waffe in Händen würden die Ame­ri­kaner Nazis und Japaner in die Knie zwingen, den Welt­krieg beenden, Stalin in Schach halten und sich als führende Welt­macht etab­lieren können. Der Preis, den die Bevöl­kerung im Gebiet eines Ein­satzes würde bezah­len müssen, musste der Regierung und den Forschern klar sein: hundert­tausend­facher Tod, schwerste Ver­stümme­lungen, Leid und Zerstörung.

Wie dieser Auftrag manchen Betei­ligten zusetzte, welche Kämpfe sie mit sich selbst und den Kol­legen aus­fechten mussten, um einen Weg zu finden zwischen morali­schen, religiösen, philo­sophi­schen und humanis­tischen Prinzipien, wissen­schaft­lichem Ethos, persön­licher Verant­wortung, Loyalität zu ihrem Land und seinen strate­gischen und politi­schen Zielen, das haben zahlreiche Autoren und Künstler vielfältig und dif­ferenziert bearbeitet (Zu­sammen­stellun­gen bei­spiels­weise in den Wiki­pedia-Artikeln zum »Manhattan-Projekt« und zu »Robert Oppenheimer«, dem Leiter des Projekts).

Nun hat die junge amerikanische Schriftstellerin TaraShea Nesbit ihr Roman­debüt einem bislang un­beach­te­ten Aspekt dieser schwie­rigen Phase der Historie gewid­met. In »The Wives of Los Alamos« TaraShea Nesbit: »The Wives of Los Alamos« bei Amazon (Überset­zung: Barbara Schaden) erzählt sie, wie die Ehe­frauen der Wissen­schaftler die Zeit in der For­schungs­enklave erlebten.

Wohin es gehen soll, was sie dort erwartet, davon haben die anfangs nur wenigen jungen Frauen keine Ahnung. Sie steigen in Sante Fé, New Mexico, aus dem Zug, dann werden sie nebst ihren Säug­lingen und Klein­kindern in Bussen weiter­ver­frach­tet, bis sie schließlich mitten in der Wüste ihr Ziel erreichen: »Site Y« bei Los Alamos, auf keiner Landkarte markiert, keine Schule, kein Kran­ken­haus. Hektisch stampfen hier Armee­ein­hei­ten eine schlichte Sied­lung aus dem Boden – Well­blech­baracken, iden­tische oliv­grüne Holz­häus­chen, Stachel­draht um das gesamte Areal, Zugang nur für authori­sierte Perso­nen. Die Labore und Werk­stätten der Ehe­männer liegen noch weiter abge­sondert in der einige Meilen ent­fern­ten Tech Area. Woran sie dort arbeiten, weiß niemand. Fragen werden nicht beant­wortet. Für jeden, der hier lebt, gilt die höchste Geheim­haltungs­stufe.

Die Frauen haben die verschiedensten Hinter­gründe. Einige sind erst kürzlich ein­­ge­wan­de­rt, die meisten haben einen akade­mischen Abschluss. Etliche haben in Yale oder Harvard pro­moviert. Dazu die charak­ter­lichen Unter­schiede. Wenngleich Reibe­reien, Miss­gunst und Rivali­täten in der Zwangs­gemein­schaft nicht aus­bleiben, sitzen alle im selben Boot. Weit weg von ihren bishe­rigen sozialen Um­feldern und von der Zivili­sation sind sie in ein trostlos unifor­mes Lager verbannt, wo sie sich auf dem Abstell­gleis fühlen. Während die Männer pausen­los im Dienst sind, bleibt den Frauen nicht viel zu tun als sich, unter­stützt von mexika­ni­schen Haus­mädchen, dem über­schau­baren Haushalt und der Erzie­hung der Kinder zu widmen, sich als Sekre­tärinnen zu bewer­ben oder Post auszu­tragen. Eine kleine Elite forscht Seite an Seite mit den Männern in der Tech Area. Alle müssen sich irgend­wie mit den extremen klima­tischen Ge­geben­heiten, glühend hei­ßen Tagen und eisigen Nächten, Dürre­perioden und starken Regen­fällen, Staub und Schlamm, Wasser- und Lebens­mittel­ratio­nie­rung arran­gieren.

Mit der Zeit entdeckt man, dass die surreale Situation einer Art Gefan­gen­schaft auf Zeit auch Schönes bietet. Die Land­schaft ist keines­wegs bloß eine öde Wüste, wie befürch­tet, sondern grandios und ab­wechs­lungs­reich. In der näheren und weiteren Umgebung locken wunder­schöne Szene­rien mit idylli­schen Canyons, uralten Höhlen­sied­lungen, Berg­wiesen, Wild­bächen – genug Ziele für Pick­nicks und Barbe­cues, für Aus­ritte und zum Ski­fahren.

Um die eigentümliche Befindlichkeit ihrer Protagonis­tinnen­kommune zu verdeut­lichen, wählt die Autorin eine unge­wöhn­liche Erzähl­per­spek­tive. Anstatt eine der Frauen als reprä­senta­tives Sprach­rohr zu profi­lie­ren oder episo­den­weise mal aus dieser, mal aus jener Sicht zu berich­ten, spricht sie konse­quent von »wir« und meint damit das gesamte Kollektiv: »Wir waren mehr als nur Ich, wir waren Wir, [...] obwohl wir uns Einzig­artigkeit wünsch­ten.« In der Gemein­schaft sind sie stark, können »den Stadt­rat organi­sieren« und, »be­waff­net mit Baby­fläsch­chen und Kon­serven­dosen«, Forde­rungen nach einem größeren Einkaufs­laden durch­setzen.

Was alle Frauen im »Wir« verbindet, sie unisono erzählen lässt, ist neben räum­licher Isolation und Einsam­keit das schwer lastende Be­wusst­sein, an einer Ent­wick­lung von gewaltiger Bedeutung betei­ligt und gleich­zeitig von ihr ausge­schlossen zu sein. Die anfäng­liche Ahnungs­losig­keit wird durch syste­mati­sche Geheim­nis­tuerei fest­geschrie­ben. Die Frauen bereiten ihren Männern ein Zuhause, emp­fangen sie, wenn sie mit »wirrer Miene« nach Hause kommen, und hören zu, wenn sie im »Wissen­schafts­kauder­welsch« fach­sim­peln, können aber nicht teil­haben, nicht einmal Fragen stellen. So tragen sie nolens volens zur Ent­ste­hung von etwas bei, das die Männer nur als »The Gadget« bezeich­nen, von dem die Frauen jedoch nicht einmal wissen, »was es wirk­lich war, dieses ›Gerät‹«.

Der brutalen Wahrheit am nächsten kommt, wer in der Nacht zum 16. Juli 1945 auf­bleibt und den Horizont beob­achtet. Ausge­rüstet mit Schin­ken­sand­wich­tüten und Thermos­kannen sind viele der Männer gemein­sam ins Wochen­ende aufge­brochen, als ginge es zum Pfad­finder-Hike durch die Wüste. Aber am frühen Morgen bebt die Erde. In der Ferne ent­faltet sich ein gewal­tiger Pilz, »eine riesige Qualle ... purpur­rot«. Bei ihrer Rück­kehr sind die Männer begeis­tert und erschöpft. Haut­ver­bren­nun­gen und Augen­reizun­gen deuten nur sanft an, was für ein Höllen­feuer sie zu zünden gelernt haben, während ihre Frauen die Kinder hegten und sich mit Lese­kreisen, Strick­runden, Tanz­aben­den Ab­wechs­lung ver­schaff­ten.

Nachdem das Geschöpf ihrer Männer drei Wochen später seiner Be­stim­mung gemäß über Hiro­shima und Naga­saki abge­worfen worden war, erfüllte es auch seinen politi­schen Zweck. Der Feind war schwer ver­wundet, zerstört, demora­lisiert und besiegt, der Zweite Welt­krieg ging zu Ende. Spätes­tens jetzt musste sich auch jede der Frauen von Los Alamos damit aus­ein­ander­setzen, ob »The Gadget« ein Wunder­werk oder ein Alb­traum war und welchen Beitrag sie dazu geleistet hatte.

Auch zu TaraShea Nesbits Roman stellen sich etliche Fragen. Die grund­sätz­lichste lautet: Welche Rele­vanz haben die trivialen Alltags­erleb­nisse einer gut situ­ierten Frauen­gemein­schaft, die sich nur über die schlichte Tatsache definiert, dass ihre Ehe­gatten eine epochale Tätig­keit ausüben? Zur ebenso interes­san­ten wie problema­tischen For­schungs­arbeit können sie nur Mut­maßun­gen äußern. Neben dem, was in der Tech Area geschieht, wirken die im Roman fokus­sier­ten Aktivi­täten und Be­find­lich­keiten in den Küchen, Kin­der- und Wohn­zim­mern erst recht un­be­deu­tend.

Nesbits Versuch, eine funktional angemessene neue Erzähl­per­spek­tive zu instal­lieren, führt anfangs zu eini­gem Be­frem­den. Das perma­nente »Wir« wirkt ziem­lich gezwungen und künst­lich (»[Der Be­sucher] fragte unsere Männer nach ihrer For­schungs­arbeit ... sie gingen mit­einan­der durch den Flur zum Arbeits­zimmer unseres Mannes.«).

Hauptsächlich dient die Erzählperspektive der Ver­harm­losung. Sie erschafft eine kollektive Distanz zum Wirken der Physiker und Techni­ker in den Laboren. Die dortigen An­stren­gun­gen, eine uner­hörte Todes­maschine zu ent­wickeln, laufen jenseits der Bühne der Frauen­ge­schich­ten ab und bleiben hinter Andeu­tun­gen ver­steckt. Statt­dessen wird uns Belang­loses, Klatsch und Tratsch aufge­tischt: »Mrs Oppen­heimer hatte am Dienstag beim Früh­stück eine Fahne.« Die Frauen nennen ihre kleine, stetig wach­sende Stadt »Shangri-La« – ein gerade­zu zynischer Wider­spruch zur rea­len Funktion dieses Ortes.

Die Selbstbeschränkung auf eine Perspektive mit ver­schleier­ter Sicht verhin­dert den Zugang zu den realen Personen und histo­rischen Gescheh­nissen. Die Männer bleiben so schemen­haft, wie es ihre Arbeit für die Frauen war. Berühmte Verant­wortungs­träger wie Robert Oppen­heimer, Niels Bohr und Enrico Fermi hu­schen als bloße Numen über die Seiten. Wichtige Zeit­ereig­nisse (Brand­bomben auf Dresden, Mussolini hinge­richtet, Selbst­mord Hitlers) dringen nur als Radio­nach­richten in die abge­schottete kleine Welt der Frauen von Los Alamos.

Darüber hinaus halte ich das Konzept einer Kollek­tivierung grund­sätzlich für frag­würdig. Selbst die Auto­rin kann natürlich nicht umhin, die Unter­schiede zwischen den Frauen immer wieder auszu­spielen, auch wenn die Indivi­duali­sierung sich meist auf Vornamen und einfache Etikettie­rungen beschränkt (»Virginia sprach über ihre Liebe zu Irland. Mildred sorgte dafür, dass der Whiskey die Runde machte. Evelyn trug diesmal den purpurnen Tiroler­hut ...«).

Das Erzählen ist nach Jahren (1943 bis 1945) und Schlagwörtern (»Ausflüge«, »Vorwürfe«, »Der Direktor« ...) grob struktu­riert. De facto ergibt sich ein Themen-, Chrono­logie- und Lokali­täten-Hopping zwischen 1943 und 1968, Los Alamos und Vietnam, der Entwick­lung der Atom­bombe und der Friedens­bewegung. Ein konsis­tenter Hand­lungs­fluss bleibt aus. Ärgerlicher sind die ständigen inhalt­lichen Wieder­holungen bei Alltags­routinen, Kinder­erzie­hung, Klatsch und Tratsch am Kochtopf.

Fazit: Ein nicht uninteressantes, aber insgesamt seichtes, weit­hin über­flüssiges Buch.


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