Leichte Carambolagen
Wenn ein Schmetterling in Brasilien mit seinen Flügeln schlägt, kann das in Texas einen Tornado auslösen. So hübsch illustrierte jedenfalls der Chaosforscher Edward N. Lorenz seine These, dass selbst minimale Veränderungen in der Ausgangssituation am Ende einer komplexen Entwicklung zu völlig anderen, unvorhersehbaren Zuständen führen können.
Im verlässlich geregelten Leben der pensionierten Lehrerin Charlotte Rainsford schlägt eines Tages kein kleiner Schmetterling, sondern ein Kleinkrimineller zu. Eines kommt zum andern, die Tage nehmen einen anderen Verlauf als üblich, und am Ende stehen neue Bekanntschaften, neue Erkenntnisse, neue Einstellungen, neue Aufträge sowie eine Beinahe-Scheidung.
Ein Schubs wirft die alte Dame zu Boden. Auf dem Gehweg liegend, sorgt sie sich weniger um die Verletzung, die sie beim Sturz davongetragen hat, als um ihre Handtasche. Die ist weg, mitsamt Hausschlüssel, Magentabletten, Bank- und Bahn-Card, Kamm und Papiertaschentüchern.
Nach Hause gehen, um dort Ruhe zu finden, kann Charlotte nicht. Sie wird ins Krankenhaus gefahren und an der Hüfte operiert. Danach muss sie für einige Wochen zu ihrer Tochter Rose und Schwiegersohn Gerry ziehen. Das fällt ihr besonders schwer, denn niemals wollte sie jemandem zur Last fallen. Hilflosigkeit und Abhängigkeit – das ist der »GAU« für jemanden wie Charlotte, als starke und autarke Persönlichkeit »aus siebenundsiebzig mottenzerfressenen Jahren« hervorgegangen.
Wenn Charlotte auf ihr Leben zurückblickt, begreift sie sich als komplexes Produkt einer Sequenz unterschiedlicher Einzelpersönlichkeiten – die junge Mutter, die erfolgreiche, angesehene Lehrerin auf der Karriereleiter, die gute Ehefrau (jetzt verwitwet). Sie hat allen Grund, stolz auf sich zu sein. Nur die neueren Versionen ihres Selbst machen ihr Kummer. Der Ruhestand, weithin als wohlverdientes, erstrebenswertes Ziel angesehen, als »beschauliche Abendstimmung« verklärt, hat Charlotte nichts als Verdruss und Malaisen gebracht. Aus anfänglichen Zipperlein sind handfeste Schmerzen und Defekte geworden, von den Beinen bis zu den Augen, vom Gehirn ganz zu schweigen.
Dennoch stand die alte Dame auch im Ruhestand nicht still, sondern blieb mitten im Leben tätig, gab Kurse für Ausländer und Analphabeten. In ihrer neuen Unbeweglichkeit ist daran nicht mehr zu denken. Angesichts der kargen Auswahl im Hause ihrer Tochter ist sogar ihre Begeisterung für Bücher und die morgendliche Zeitungslektüre stark abgeflacht. Langeweile und ein Gefühl der Nutzlosigkeit machen sich breit. Vielleicht könnte sie es irgendwie einfädeln, während Roses Arbeitszeiten private Nachhilfestunden zu geben ...
Tochter Rose ist ihr kein Trost. Sie hat zwar zwei »Prachtkinder« zur Welt gebracht, ansonsten aber keinerlei Ambitionen. Ihre Bürotätigkeit für den alten Lord Henry Peters empfindet Charlotte als perspektivloses, läppisches Jobben. Doch Charlotte hat sich auferlegt, Distanz zu wahren, sich niemals in Roses Lebensweg einzumischen.
Lord Henry, 79, ein kauziger, selbstherrlicher Gentleman, ist eine Art Kontrastfigur zu Charlotte. Während diese mit dem Älterwerden hadert, nimmt er es mit Würde und gestaltet es zweckmäßig. Die moderne Obsession für Jugendlichkeit ist ihm ein grässliches Phänomen. Ob jung oder alt, er legt Wert darauf, für seine Fähigkeiten anerkannt zu werden.
Allerdings hat Lord Henry die Bodenhaftung verloren. Ohne Netzsicherung versteigt er sich in mittlerweile allzu hohe Sphären. Sein »grauenvoller Charme« entfaltet schon lange nicht mehr die einstige Wirkung, und auch akademisch ist der Fachmann für Robert Walpole nicht mehr ganz auf der Höhe. Sein früher zuverlässiges Gehirn gerät gelegentlich ins Stottern. Kürzlich hat er sich vor erlesenen Gästen in Manchester blamiert, als er in einem Routinevortrag über eins seiner Standardthemen nicht mehr alle Namen und Jahreszahlen parat hatte. Jetzt drängt es ihn, seine Reputation wiederherzustellen. Ein TV-Auftritt, am besten ein Serienformat zur Primetime, wäre das Richtige, um ihn wieder nach oben zu katapultieren.
Ursprünglich hatte ihn sein Faktotum Rose nach Manchester begleiten sollen. Doch der Gehweg-Stoß warf über die Banden namens Charlotte und Rose diese Planung um. Touchiert wird Henrys Nichte Marion (geschieden). Sie erklärte sich bereit, an Roses Stelle einzuspringen, musste dazu aber ein Rendevouz mit ihrem verheirateten Liebhaber absagen. Ihre SMS (»Ich schaff's nicht am Freitag [...] Küsschen«) wurde verhängnisvollerweise von dessen betrogener Ehefrau entgegengenommen und löste ihrerseits sehr unschöne Konsequenzen aus.
Des einen Leid, des andern Freud'. Marion bringt die spontane Kurzreise mit dem reichen Erbonkel einen finanzstarken Zufallskontakt ein, der der rezessionsgebeutelten Innenarchitektin einen lukrativen Auftrag vermittelt. Und auch die notgedrungen daheim gebliebene Rose macht ebenda eine erfreuliche Bekanntschaft mit weitreichenden Folgen.
Durch den Schubser auf dem Bürgersteig ging Anton, vor Kurzem aus Osteuropa immigriert, seiner Abendkursleiterin verlustig. Für seinen sozialen Aufstieg vom Bau-Hilfsarbeiter zum erlernten Beruf als Buchhalter muss und will der Fünfzigjährige aber weiter intensiv Englisch pauken. Charlotte gibt ihm insgeheim Privatstunden im Haus ihrer Tochter. Als Rose dahinterkommt und den Nachhilfeschüler erblickt, fühlt sie sich gleich hingezogen zu dem armen Schlucker. Was sind Gerry und die »geruhsame Koexistenz« mit ihm gegen Antons unwiderstehliches Lächeln, seine »Augen, die dunkle Wälder in sich bergen, ruritanische Schlösser, Musik von Janácek oder Bartók«? Es keimt eine gegenseitige Liebe, die nicht sein darf und keine Zukunft hat, die die beiden dennoch in trauten Spaziergängen durch Londons Parkanlagen und Museumsbesuchen tugendhaft ausleben.
So kommt eins zum anderen, Charlottes Geschichte und die vieler anderer Figuren, die »so kapriziös ins Rollen gebracht [wurden] von dem, was Charlotte eines Tage auf der Straße zustieß«, bis die Autorin uns zuzwinkert, dass sie jetzt mal per »Kunstgriff« ein Ende setzen wird, weil es »befriedigend und praktisch« ist, während die Geschichten selbst ebenso wie die Zeit weiterlaufen, auseinanderdriften, getrennte Wege gehen.
Wenn wir das Buch dann nach den letzten Ausblicken zuklappen, schlägt unser Puls immer noch so schmetterlingsflügelsanft wie am Anfang – von Tornados nirgendwo eine Spur. Penelope Livelys Stärke sind die leisen Töne, zarten Handlungsfäden, süffisanten Bemerkungen, hintersinnigen Kommentare, subtilen Charakterbeobachtungen. Mit feinem Gespür lässt sie ihre ein wenig aus der Bahn gestupsten Figuren nuancenreich über ihren Ist-Zustand reflektieren und sich abwägend rückbesinnen auf die Wege, die hinter ihnen liegen. Sie bewahrt Sympathie für ihre Charaktere, hält aber kritische Distanz zu ihnen und dem, was sie so treiben. An der Oberfläche machen sie oft einen amüsanten, leicht schrägen Eindruck, doch in ihrem Inneren sind alle voller Melancholie, als hätten sie ihre Chancen im Leben verpasst. Dass sich die Zeit weder anhalten noch zurückdrehen lässt, dass sie an bisher unbekannte Grenzen stoßen, spüren Charlotte und Lord Henry am unmittelbarsten.
Das Bild vom harmlos flatternden Schmetterling und seinen weitreichenden Folgen, im Originaltitel (»How it all began« ) und mehrfach im Romanverlauf angesprochen (Übersetzung: Maria Andreas), dient Penelope Lively nur als literarischer Aufhänger und roter Faden. Ansonsten serviert die für ihr gepflegtes erzählerisches Werk hochgeehrte Dame Commander of the Order of the British Empire bewährte und ausgiebig gerühmte Unterhaltungsliteratur, intelligent, inhaltlich und stilistisch ein kleines bisschen altbacken, very traditional, very British.