Idyll im Sturm
Isoliert von der Welt und doch ihr Spiegel, das ist der Schauplatz von Thomas Hettches Roman »Pfaueninsel«. Die preußischen Monarchen Friedrich Wilhelm II. und sein Sohn Friedrich Wilhelm III. haben die kleine Insel in der Havel südwestlich von Berlin nach ihren höchstpersönlichen Vorstellungen als Refugium gestaltet; so war das Eiland auch Ausdruck der königlichen Seele.
Friedrich Wilhelm II., Neffe Friedrichs des Großen und sein Thronfolger, war ein Lebemann. Als Zwanzigjähriger lernte er 1764 die bürgerliche Musikertochter Wilhelmine Encke kennen, mit der er später – während seiner unglücklichen ersten Ehe aus Staatsräson – eine Liebesbeziehung begann. 1768 gebar Wilhelmine ihr erstes Kind, 1769 wurde die Sechzehnjährige offiziell zur Mätresse des Prinzen. Die beiden blieben einander bis zu seinem Tod 1797 gewogen und hatten insgesamt fünf gemeinsame Kinder. Dem stand nicht entgegen, dass »der dicke Lüderjahn« (wie ihn der Volksmund nannte) 1769 eine neue Ehe schloss (aus der 1770 der spätere Thronfolger Friedrich Wilhelm III. hervorging) und zwei weitere Mätressen unterhielt.
Schon seit 1766 hatte der Kronprinz für seine romantischen Rencontres mit Wilhelmine Encke die verwilderte Havel-Insel auserkoren. Nachdem er 1786 König von Preußen geworden war, ließ er dort 1794 ein weißes Lustschlösschen errichten. Dem kleinen architektonischen Schmuckstück am idyllischen Gewässer, dessen komplette Inneneinrichtung Wilhelmine gestaltete, gliederte man eine Meierei an, ein ländliches Anwesen mit Milchviehhaltung, Pferden und Schafen, und es wurden Pfauen angesiedelt, die der Insel fortan ihren Namen gaben.
Friedrich Wilhelm III., der 1797 mit 27 Jahren den Thron bestieg, verachtete zwar die unmoralischen Verhältnisse, die am Hof seines Vaters geherrscht hatten, aber dessen Zuneigung zur Pfaueninsel teilte er – im Gegensatz zu seiner Gemahlin Luise, die weit über ihren frühen Tod (1810) hinaus vom ganzen Volk verehrt wurde. Er ließ den Hofgärtner Ferdinand Fintelmann einen Landschaftspark im englischen Stil anlegen, der während der napoleonischen Besetzung auch Ackerflächen umschloss. Architekt Karl Friedrich Schinkel gestaltete einige der Bauwerke auf der Insel, und ab 1821 legte Gartenbaumeister Peter Joseph Lenné einen Rosengarten, ein Palmenhaus und eine Menagerie für exotische Tiere an.
Mit dem Tod des Königs 1840 endete die Blütezeit der Pfaueninsel; Thronfolger Friedrich Wilhelm IV. fand keinen Gefallen an ihr und schenkte die überlebenden Tiere zusammen mit etlichen Gebäuden der Zoologischen Gesellschaft Berlin, woraus 1844 Deutschlands erster Zoo hervorging.
Thomas Hettche erzählt aus der Zeit ab 1800, und er wählt eine Perspektive ›von unten‹. Protagonistin und Identifikationsfigur seines Romans ist keine Adlige aus der Fürstenfamilie, sondern eine Zwergwüchsige aus dem Hofstaat.
Denn der König hegte auf seiner Insel eine weitere Vorliebe, die der arrangierten Exotik in Flora und Fauna die Krone aufsetzte. Im künstlichen Ambiente versammelte er auch menschliche »Exoten«, andersartig in ihrer Gestalt oder nach ihrer Herkunft. Hier lebten der sanftmütige »Riese« Karl Ehrenreich Licht, der auf den Sandwich-Inseln geborene dunkelhäutige Heinrich Wilhelm Maitey und das in Folge einer Genmutation kleinwüchsige Geschwisterpaar Christian Friedrich und Maria Dorothea (»Marie«) Strakon aus Rixdorf.
In Maries Geburtsjahr 1800 ist Deutschland ein Flickenteppich aus Kleinstaaten und einer Handvoll größerer Fürstentümer, unter denen Brandenburg das mit Abstand ausgedehnteste ist. Die Bevölkerung nährt sich von Agrarwirtschaft und Handwerk. Als Marie 80 Jahre später stirbt, hat sich die Welt radikal verändert. Das deutsche Reich ist begründet, Maschinen haben die Arbeitswelt und die sozialen Verhältnisse revolutioniert, Wissenschaftler bringen ständig neue Erkenntnisse, Ingenieure Meisterleistungen zu Werke, so dass man allgemein überzeugt ist, der Mensch werde sich die Natur in Bälde vollends untertan gemacht haben. Binnen vier Jahrzehnten wurde das ganze Land mit einem zwanzigtausend Kilometer langen Eisenbahn-Netz überzogen. In Berlin bauen Borsig und Schwartzkopff immer größere und schnellere Lokomotiven.
Von alldem bekommen die beiden Waisenkinder Christian und Marie nur wenig mit, denn nachdem sie 1806 als Kuriositäten auf die märchenhafte, verwunschene Pfaueninsel gebracht wurden, ist diese ihre Welt. Sie wachsen dort in der Familie des Hofgärtners Ferdinand Fintelmann auf. Wenn Marie bei Tisch als Schlossfräulein auf ihrem Kinderstuhl speist, dient sie der Belustigung. Wenn sie auf kurzen Beinen durch die Gärten läuft, schaut man ihr nach, der eine voller Abscheu, der andere voller Neugier.
Der Grundton von Thomas Hettches Roman ist nüchtern, sachlich und präzise, aber keineswegs kunst- oder schmucklos. Trotz der vorherrschenden Rationalität (botanische Erläuterungen, Bestandslisten ...) lesen wir auch Poetisches, Anrührendes und Märchenhaftes. Der Einstieg – die schöne Königin Luise trifft im Walde unvermittelt auf Maries Bruder – kulminiert in einem Wort, das Maries gesamtes Leben bestimmt und leitmotivisch begleitet, was auf der Insel geschieht: »Monster«.
Wiewohl der Lehrer Mahlke Marie erklärt, dass »alles Leben« seinen Platz in der Welt habe, nichts außerhalb stehe, sondern allenfalls noch unverstanden sei, aber »im Zuge des Fortschritts der Wissenschaften eine Erklärung finden werde«, wird in der Parallelwelt der Pfaueninsel das Andersartige kultiviert, und Marie bleibt ständig vor Augen, dass sie ein Teil dessen ist, was erst durch die Benennung als »Monster« ausgegrenzt wird.
Monströs ist nahezu alles im synthetischen Paradies: die zu einem klassizistischen Garten gezähmte und verniedlichte Landschaft, die artifizielle Architektur, die Ansammlung exotischer Schaustücke in einer Umgebung, die ihnen keine natürliche Lebensweise erlaubt. Das Palmenhaus muss um eine Glaskuppel erhöht werden, damit die Blätter nach oben genügend Platz haben; später buddelt man in die Tiefe, verlegt das Wurzelwerk nach unten.
In der künstlich erschaffenen, isolierten Umgebung vertrocknen die menschlichen Beziehungen; Sexualität gerinnt zu absonderlichen technischen Praktiken ohne Sinnenfreude, ohne Emotion. Marie wird zum Schloss bestellt, um der Fürstin Liegnitz bei einer merkwürdigen Selbstbefriedigung zuzusehen (mit funkensprühendem frühen Hitech-Sexspielzeug) und dann dem König zu Diensten zu sein.
Marie ist Teil eines ungewöhnlichen Liebesdreiecks. Einerseits pflegt sie ein inzestuöses Verhältnis mit ihrem Bruder Christian, andererseits liebt sie sehnsüchtig Fintelmanns Neffen Gustav. Dieser wiederum kann ihre eigentümliche Körpergestalt nicht ertragen und fühlt sich ausgerechnet zu Christian hingezogen. Beides hindert ihn aber nicht daran, Marie zu schwängern.
Christian hat sich über die Jahre zu einem verwilderten, instinktgetriebenen Wesen entwickelt. Bei einem ausschweifenden Fest, das die Fürstin Liegnitz im Palmenhaus veranstaltet und zu dessen Unterhaltung die Geschwister in farbenprächtigen orientalischen Kostümen beitragen sollen, umschwänzelt er die Fürstin derart hemmungslos und obszön herausfordernd, dass Gustav nicht länger zusehen kann und ihn auf spektakuläre Weise umbringt. Marie ist damit einer wichtigen Stütze in ihrem Leben beraubt, und als Gustav ihr bald darauf ihr neugeborenes Kind wegnimmt, verliert sie den letzten Halt. Sie zieht sich zurück und flüchtet in die Welt der Literatur, die der Lehrer Mahlke ihr eröffnet hat.
Thomas Hettches »Pfaueninsel« ist dicht bevölkert mit einer Vielzahl historischer Persönlichkeiten: den Königen, ihren Hofgärtnern, Landschaftsarchitekten und Baumeistern, dem Personal und illustren Besuchern. Was vom Erzählten historisch belegt werden könnte und was des Autors formender Fantasie entsprungen ist, bleibt offen. Von seiner Protagonistin findet man heute nur ihre Grabplatte mit der Aufschrift »Hier ruhet in Gott die Schloßjungfer Fräulein Maria Dorothea Strakon«, ansonsten »nirgendwo im world wide web« ein Bild oder eine Spur. Insofern hat selbst ihr flüchtigster Besucher eine umfassender verbürgte Vita: Peter Schlemihl, Adelbert von Chamissos Märchenfigur, fertigt einen Schattenriss von Marie ...
Der Roman ist ebenso prall von Handlung; sie wird in kurzen Episoden verabreicht, die den Leser hinauf und hinunter durch die Jahrzehnte jagen und mit detailreichen Beschreibungen der überbordenden Flora garniert sind. Im Kontext eines überwiegend distanziert gehaltenen Erzähltons ragen einige emotional starke Szenen heraus, etwa die von der Gefühlswelt der gefangenen Tiere, vor allem des verendenden Löwen, der in seiner Pein aufbrüllt und von Marie beruhigend gestreichelt wird. Zum Zeitbild gehört auch Skurriles wie die »Jagdfreude«, die sich in den Schrecken des Jägers Köhler mischt, nachdem er versehentlich den »Mohr Theobald Itissa« erschossen hat.
Am Ende dieses Porträts einer Zeitenwende mit rasantem technischem und geistigem Fortschritt, die in vielerlei Hinsicht der unsrigen gleicht, sind dem Leser alle Sehenswürdigkeiten der Pfaueninsel bestens vor Augen. Marie führt abschließend noch einmal als Fremdenführerin zu allen Orten. Doch da hat die Natur die Insel schon wieder zurückerobert, alles Künstliche »getilgt«, alles Unnatürliche ist »tot und verdorrt«, und »nichts war geblieben als der Glanz der Pfauen«.