Das gekaufte Leben
von Tobias Sommer
Clemens Freitag hatte im Leben wenig Glück und wenig Erfolg zu verbuchen, bis er bei einer Internetauktion den Zuschlag erhält. Damit gehört ihm jetzt das Leben eines ihm unbekannten Mannes, und er tritt in dessen Fußstapfen.
Drei, zwei, eins – mein Leben!
In seinen ersten sechzehn Lebensjahren war Clemens Freitag ein ganz normaler Junge. Er hatte Träume und verfolgte Ziele wie wahrscheinlich die meisten anderen auch: einen Beruf mit solidem Einkommen, eine Familie mit Kindern. Doch dann starben seine Eltern bei einem Unfall, und mit ihnen verlor er nicht nur seine Liebsten, sondern auch sich selber. Er schaffte keinen Schulabschluss, übte keinen tragfähigen Beruf aus und führt jetzt, zwei Jahrzehnte später, ein Außenseiterleben in Berlin.
Da stößt er auf einer Versteigerungsplattform im Internet auf ein unglaubliches Angebot, das ihm, wie er sogleich erfasst, einen umfassenden Neuanfang ermöglichen könnte. Zum Verkauf steht nichts Geringeres als eine komplette Lebenssituation, in die der Erwerber nur einzusteigen braucht. Allerdings übersteigen die Gebote rasch die Ressourcen eines Gelegenheitsjobbers mit »schwarzer Null« auf dem Konto und drei Monaten Rückstand bei der Miete. Um die Chance seines Lebens nicht vorbeistreichen lassen zu müssen, beschließt Freitag, das Konto seiner Eltern zu belasten, obwohl sich das für ihn anfühlt, »als würde ich ihren Tod akzeptieren«. So kann er tapfer mithalten, bis die letzte Mitbieterin bei einer Viertelmillion endlich aussteigt.
Nun ist der »Sammler von Pleiten« Eigentümer des Lebens eines Herrn Götz Dammwald aus Zaun in Deutschlands östlicher Provinz. Zusammen mit seinem Rucksack schultert Freitag seine Vergangenheit (etwas, das man ohnehin nie abstreifen kann) und macht sich auf den Weg dorthin. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln und auf den letzten Kilometern per pedes erreicht er zum Jahreswechsel das verschlafene Örtchen.
Wie muss man sich vorstellen, was Clemens Freitag da als »Leben« ersteigert hat? Fasslich wird es als sehr konkrete Immobilie, ein Einfamilienhaus mit 160 Quadratmetern Wohnfläche, Kleiderschränke und Vorratskeller gut gefüllt. In der Garage steht ein feiner Geländewagen mit Stern startbereit. Auf dem weitläufigen Grundstück zieht ein Mähroboter selbst jetzt im Winter seine Runden. Der wunderschöne Waldsee bietet nicht nur einen hübschen Ausblick vom Wohnzimmer, sondern lockt zu Angeltouren mit dem Boot, das im eigenen Bootshaus wartet. Ein Ferienhaus auf dem Grundstück kann der Eigentümer vermieten oder Besuch darin unterbringen.
Doch »Leben« umfasst ja weit mehr. Selbst der gut bezahlte Job des Vorbesitzers geht auf Clemens Freitag über. Am Mittwoch nach Neujahr betritt er das Büro seines neuen Chefs im Industriegebiet der Gemeinde Geistling zum Vorstellungsgespräch, und es verläuft reibungslos (»Wir duzen uns alle.«). Auch die Nachbarschaft nimmt den Neuen nahtlos in ihrer Mitte auf, als sei er die Reinkarnation von Götz Dammwald. Das sind die Männer, die am Stammtisch der Wirtschaft »Zum Zaungast« den feucht-fröhlichen Ton angeben – neben dem Gastwirt selbst ein Installateur, ein Versicherungsmakler und ein IT-ler.
Nicht einmal in der Fiktion, so schwant uns von Beginn an, kann jemand auf diese Weise das vollständige, dem Augenschein nach perfekte Leben eines anderen von einem Tag zum anderen übernehmen. So lauern wir nur darauf, dass sich Falltüren öffnen, und natürlich fragt sich auch Clemens, ob er sein plötzliches Lebensglück nicht irgendwann mit einer anderen Währung bezahlen muss als mit dem Ersteigerungsbetrag in Euro. Als er das Top-Inserat entdeckte, überprüfte er es natürlich genauestens, konnte aber keinerlei Nachteile, nicht einmal Fragwürdigkeiten aufspüren.
So nimmt Clemens sein neues Leben in Zaun erfreut und unbeschwert in Angriff. Für sein erstes Abendessen – das des Neujahrstages – wählt er aus den Vorräten eine Büchse »Rügener Fischsuppe Soljanka« und betrachtet, während sie auf dem Herd vor sich hin köchelt, die Zettel auf der Pinnwand. Neben Notizen finden sich Busfahrpläne, Speisekarten von Restaurants mit Lieferservice und vergilbte Zeitungsausrisse von provinziellen früheren Neuigkeiten (Ringfinger ohne Ring gefunden).
Was in aller Welt mag jemanden wie Götz Dammwald dazu bewogen haben, alles, was seine offenkundig höchst angenehme, sichere und geruhsame Lebenslage ausmacht, gegen Geld wegzugeben? Das erinnert doch an die Geschäfte eines »Hans im Glück«. Der wird meist als Dummkopf verlacht, aber mancher gibt zu bedenken, dass er sich ja auch frei macht von der Belastung, die materieller Besitz mit sich bringen kann. Vielleicht ist Dammwald ein »Götz im Glück«? In jedem Fall hatte er seine Päckchen zu tragen – Clemens erfährt von einer »Trennung«, und wieso hängt die Sache mit dem Finger in der Küche? Nach dem Verkauf seines Lebens ist Dammwald angeblich auf Weltreise gegangen, aber da er nie persönlich in Erscheinung tritt, bleiben seine Motivationen und manch anderes im Dunkeln.
Nach und nach lässt uns der Autor wenigstens in Freitags Leben Einblick nehmen, und ans Tageslicht kommt, dass es nicht immer ganz astrein verlief. Aber auch das anfänglich so viel versprechende Leben in Zaun trübt sich ein. Ungewissheiten kommen auf und legen sich wie Nebel auf Freitags Gemüt, seine Nächte werden von Hundegebell, geisterhaften Geräuschen und Erscheinungen beschwert, Albträume suchen ihn heim. Selbst die freundlichen Nachbarn, harmlose Angler und attraktive Frauen lassen für ihn bedrohliche Züge erkennen.
Die ungewöhnliche Handlung dieses Romans entwickelt sich ab Neujahr von einem Tag zum nächsten über etwa drei Wochen. Indem Verbrechen auftauchen und aufgeklärt werden, ist dies zunächst einmal ein Krimi. Die immer reichlicher auftretenden Elemente des Unheimlichen, Irrationalen schaffen zunehmend die Stimmung eines Psychothrillers. In jedem Fall ist »Das gekaufte Leben« aber ein gut gemachter, eindringlicher Unterhaltungsroman.
Ungewöhnlich mag man auch finden, dass die originelle Fiktion aus Feder und Fantasie eines Mannes floss, der sich in seinem Brotberuf mit dem Unemotionalsten, Nüchternsten, Trockensten herumschlägt, das man sich gemeinhin vorstellen kann: Tobias Sommer ist Finanzbeamter. Der 1978 Geborene scheint im Schreiben Ausgleich, Weitung und persönliche Erfüllung gefunden zu haben. Nach Gedichten und Kurzgeschichten veröffentlichte er 2011 den ersten (»Dritte Haut«) von bisher vier Romanen. Neben zuerkannten Preisen und Stipendien war er 2014 für den Ingeborg-Bachmann-Preis nominiert.