Müll
von Wolf Haas
Simon Brenner, Ex-Polizist, Ex-Detektiv und anderes, jetzt Müllmann, findet ein Knie im falschen Recycling-Container. Das gibt Anlass zu amüsantem, skurrilen und makabrem Schmäh.
Wohin mit dem Knie?
Die Vielfalt der Tätigkeiten, an denen sich Simon Brenner über die Jahre versucht hat, ist eindrucksvoll. Angefangen hat er bei der Kripo, suchte dann als Privatdetektiv eine eigenständigere Arbeit, bis er, um Mord und Totschlag zu entkommen, als Rettungssanitäter anfing. Eine Fehleinschätzung, denn das Böse ist immer und überall. Eine Zeitlang ermittelte er wieder als Privatdetektiv, wurde in einer Klosterschule von seinen Jugendsünden eingeholt und geriet in Lebensgefahr. Dann doch lieber Privatchauffeur, dachte er – und wurde prompt in einen Entführungsfall verwickelt. Jetzt hat er breitgefächerte Lebenserfahrungen, aber auch etliche Jährchen mehr auf dem Buckel und die Nase endgültig voll vom ewig Kriminellen.
Für seinen nächsten Fluchtversuch hat er einen Job ausgesucht, der abseits des Mainstreams und des lukrativen Verbrechens liegt. Eingehüllt in orangefarbene Schutzkleidung hofft er, in der weniger attraktiven Anonymität eines Müllplatzes abtauchen zu können. Dies ist ein straff organisiertes Ambiente. Was auch immer hereinkommt, wird streng nach »Mistplatzordnung« in nummerierten Wannen abgelegt. Als eine Art Empfangschef wacht der oberste »Mistler« darüber, dass makellose Perfektion herrscht, denn »ohne die Wiederverwertung wäre die Welt schon längst untergegangen«. Unweigerlich würde Chaos ausbrechen, sobald etwas von dem »Zeug« in der falschen Wanne landet. Kein Wunder, dass die gesamte Truppe einen »gewissen Miststolz« ausstrahlt. In diesem wohlgeordneten Alltag möchte Simon unter seinen Kollegen und überhaupt unerkannt bleiben.
Leider kommt ein Knie dazwischen. Ob menschlich, tierisch, links oder rechts ist belanglos, in jedem Fall erregt es Ärgernis, denn es findet sich in der falschen Wanne. Da es obendrein gewaltsam abgetrennt ist von seinem zugehörigen Lebewesen, interessiert sich dafür außer den »Mistlern« auch die Polizei. Mit ihr erscheint Exkollege Alexander (genannt »Kopf«) am Schauplatz, und schon ist es vorbei mit Simons Tarnung.
Auch Brenners eh schon ungewöhnliche private Lebensverhältnisse zerbröseln. Zuletzt hatte ihn die Freundin wegen einer Katzenlappalie aus der Wohnung geworfen. Mit dem limitierten »Mistler«-Einkommen hat er sich gar nicht erst auf die Suche nach einem Single-Apartment zu machen brauchen, sondern gleich eine kostenoptimierte Lösung gefunden. Sie erfordert nichts als Flexibilität. Wenn jemand »in der Arbeit … auf Urlaub … im Krankenhaus oder tot« ist, steht eine Wohnung leer, und ein »Bettgeher« wie Simon kann sie ausleihen. Man muss sie nur immer ordentlich und sauber hinterlassen, sonst ist man »nicht lang im Geschäft«. Wie der Brenner erleiden muss, gibt es allerdings noch ganz andere Sachen, die dumm laufen können, und wie der weise Alexander von Humboldt konstatierte, hängt auch noch alles mit allem zusammen.
Versteht sich, dass nach dem Knie noch weitere Puzzleteile auftauchen, bis man den Originalkörper beisammen hat, aber nur fast. Das Vorhandene reicht aus, um das Individuum zu identifizieren und die ihm mehr oder minder freundschaftlich verflochtenen Mitmenschen beiderlei Geschlechts zu eruieren – auch sie teils durchweg originelle Gestalten aus Ur-Wiener Milieus mit authentischer Artikulationsweise. Die Ermittlungen wuchern von rein privaten Liebschaftsbeziehungen aus bis in mafiöse Handelsaktivitäten und zu internationalen Komplikationen, wie sie beim Zusammenprall unterschiedlicher Rechtssysteme auftreten.
Am Ende des Leseabenteuers schwirrt einem unweigerlich der Kopf, so viele Personen bevölkern den ziemlich zerfransten Plot. Manche von ihnen sind Eintagsfliegen, nur ins Leben gerufen, um ihren Namen für einen Buchstaben-Gag zu nutzen. Durchaus reizvolle Nebenschauplätze bleiben am Wegesrand zurück, ohne richtig genutzt, gefüllt, entsorgt worden zu sein. Etwas mehr schnöde Stringenz, ein Spannungsbogen hier und da täten gut. Selbst die Auflösung des Kriminalfalls kann dem Leser im Grunde so egal sein wie die Frage, ob das Knie ein rechtes oder linkes war. Man möchte meinen, wie sein Protagonist sei auch der Autor nach acht erfolgreichen Kriminalromanen in 26 Jahren die Verbrechensaufklärung Leid und entschlossen, dem Genre zu entfliehen.
Doch nicht unbedingt. Denn in den Büchern von Wolf Haas ist der Weg das Ziel. Worauf es den Fans ankommt, ist nicht der Thrill, sondern erst einmal der Sound einer eigenwilligen Sprache, den der Autor (mit Linguistikstudium) kunst- und effektvoll mixt: Satzfragmente ohne Verben (bzw. vom Vorsatz durchzuschleifen), unterordnende Konjunktionen plus Hauptsatz (»weil er ist … weitergefahren«), Dialektales (gern brachial wie »Schneebrunzer«), leere Worthülsen (»Dings«, »mein lieber Schwan«) machen die Musik. Damit im Ohr hockt man in der angenehm warmen Suppe eines Whirlpools, und von überall her sprudeln witzige, skurrile, morbide Einfälle und Formulierungen um einen herum, dazu blubbern logische Spitzfindigkeiten, Formulierungspirouetten und Giftkugerln, die durch Einwickeln in charmantes Österreichisch genießbar sind. Wo eine Blinde eine Urne als Schutzschild in den Armen hält und drei Leuten in die Augen schaut, während ein proppenvoller Altglaslaster unaufhaltsam in einen »wunderschönen, flaschengrünen See« hinaussegelt und österreichischer Müll hinüber nach Deutschland treibt, stößt die Forderung nach political correctness an Grenzen. Und was die sachliche Korrektheit betrifft, mag man das Pläsier wohl kaum damit zerrupfen, die Kausalitäten zu verifizieren. Passt scho!
Leider kann sich je nach Appetit auch Übersättigung einstellen. Der Autor gießt ein Füllhorn an Witztypen, Vokabular (unendliche Zusammensetzungen mit »Mist-«) und Erzählströmen aus, bis die Redundanzen den Genuss trüben können (»Knie in Wanne 4, da kannst du von einem Kreislauf nur träumen. Menschliches Knie wäre natürlich, wenn schon Biomüll. Wanne 19. Oder zur Not, zur äußersten Not von mir aus Kompost. Wanne 12. Also abgesehen davon, dass ein menschlicher Körperteil am Mistplatz nichts zu suchen hat, das muss ich hoffentlich nicht extra sagen. Menschliche Körperteile: Magistratsabteilung 43, Friedhöfe. Und nicht Magistratsabteilung 48, Abfallwirtschaft. Aber rein von den Wannen her gedacht, sag ich: Wanne 12, Wanne 19, da lass ich mit mir reden, aber sicher nicht Wanne 4.«).
Obwohl Haas seine Romane für »unverfilmbar« hält, hat sich ein anderer tabufreier Großer der österreichischen Kultur schon vier Mal der Aufgabe angenommen: Der Schauspieler und Kabarettist Josef Hader brilliert mit seinem hintergründigen Humor in »Komm, süßer Tod«, »Silentium«, »Der Knochenmann« und »Das ewige Leben«. »Müll« könnte wieder aparte Bilder liefern.