Und es kommt ein neuer Winter
von Massimo Carlotto
Ein heiter-makabres Schelmenstück aus einem etwas abgelegenen italienischen Bergtal mit verehrten, verliebten, verkannten, verwirrten und verkommenen Bewohnern. Die Zeiten ändern sich und die Menschen mit ihnen.
Hauptsache: alles in Butter
In Italien gehört er zu den Vielbeachteten seiner Zunft, schon seit er mit seinem autobiografischen Erstling Aufsehen erregte. In »Der Flüchtling« (1995) [› Rezension] verarbeitete Massimo Carlotto seine eigenen bitteren Erfahrungen zwischen Mordanklage, Schuld- und Freisprüchen, Gefangenschaft, Freiheit und Flucht. In jährlichem Takt folgten dann weitere Krimis. 2002 wurde »Il maestro di nodi« als bester Kriminalroman mit dem Premio Giorgio Scerbanenco ausgezeichnet, aber trotzdem bis heute nicht ins Deutsche übersetzt.
Sein jüngstes Werk erschien 2021, und es überrascht, weil es aus der Reihe fällt. Anders als der Titel befürchten lässt (eine weitere Klimawandel-Apokalypse?), geht es lustig zu in diesem Buch. Im Gegensatz zu den gewohnten ernsten bis ›harten‹ Vorgängern bietet es leichtfüßige, kurzweilige Unterhaltung mit einer possenhaften Handlung, die sich in ländlich-traditioneller Umgebung in Norditalien zuträgt. Ingrid Ickler hat den Roman für den Folio-Verlag ins Deutsche übersetzt.
Das kleine Dorf in einem nicht näher bestimmten italienischen Alpental ist ein Hort althergebrachter Strukturen. Unbeeinträchtigt vom Wechsel der Generationen sorgt eine Oberschicht für Arbeitsplätze und wird dafür mit Anerkennung belohnt. Für Ruhe und Ordnung ist eine respektable Amtsperson der Carabinieri zuständig, derzeit Maresciallo Capo Piscopo, dessen schlagkräftige Statur mitverantwortlich ist, dass diejenigen unter seinen Pappenheimern, deren Rechtsbewusstsein schwächelt, nicht über die Stränge schlagen. Im Grunde hält er alle Einheimischen für Unschuldslämmer und deswegen den Schutzschirm seiner »schaufelgroßen« Hände über sie. Vielleicht schwächelt aber auch seine Sehschärfe, zumindest auf einem Auge. Jedenfalls müsste er (wenn er nicht so träge wäre) bei manchem Zeitgenossen schon genauer hinschauen, etwa bei Fausto Righetti (»Riga«), dem einzigen »einigermaßen ernstzunehmenden Kriminellen« weit und breit.
Trotz aller gesellschaftlichen Beharrung im Gebirgstal bleibt auch hier die Zeit nicht stehen. Als das einzige Unternehmen am Ort (eine Kleiderfabrik) finanziell in Schieflage gerät, wird es von einem Konzern geschluckt, und der streicht natürlich als erste Maßnahme eine Menge Arbeitsplätze. Zwei davon haben Michele und Roberto Vardanega inne, deren verwandtschaftliche Bande zur Eigentümerfamilie Pesenti sie auch nicht vor der Entlassung bewahren können. Gut, dass ihre Ehefrauen (zwei Schwestern) mit gesundem Selbstbewusstsein gesegnet sind und mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stehen.
Da auch die kleinen Leute im Tal irgendwie am Wohlergehen der Pesenti-Dynastie partizipieren, liegt allen daran, deren Niedergang abzuwenden und den guten Ruf zu bewahren. Zu diesem Zweck muss Federica, die 35-jährige Tochter, in eine »Zweckehe« einwilligen. Das fällt ihr nicht leicht, findet sie doch bereits reichlich Erfüllung in ihren geheimen Techtelmechteln mit Stefano Clerici, einem gleichaltrigen Finanzberater und Junggesellen. Dagegen hat es Bruno Manera (der Auserwählte) deutlich schwerer, denn er hat bereits fünfzig Lebensjahre auf dem Buckel. Andererseits hat der Witwer aus der Stadt ein überzeugendes Argument auf seiner Seite: Als erfolgreicher Immobilienhai kann er das Vermögen vorweisen, dessen die Pesenti so dringend bedürfen.
Richtig aufregend entwickelt sich die Angelegenheit, als auf Bruno Manera ein niederträchtiger Anschlag verübt wird. Wer und was mag dahinterstecken? Jedenfalls nicht die liebliche Federica, da ist sich das Opfer mit seiner rosaroten Brille sicher. Während er im Krankenhaus gesund gepflegt wird, sorgt der Maresciallo dafür, dass die Gerüchteküche brodelt, und tatsächlich sind sich die Dörfler schnell einig, dass Manera (er führt ein Doppelleben! unterhält Kontakte zur Mafia! verkehrt mit Drogenhändlern!) schleunigst aus ihrem Örtchen verbannt werden muss.
Nun schlägt die große Stunde von Manlio Giavazzi. Niemand hat dem Fünfzigjährigen jemals Aufmerksamkeit geschenkt, während er Tag für Tag als Wachmann vor der Bank steht. Er aber konnte aus dieser Perspektive so manches beobachten, wie zum Beispiel, was sich da zwischen Stefano und Federica tut, und er hat genug Zeit und Muße, ausgiebig und kreativ darüber zu grübeln, wie er all die interessanten Vorgänge zu seinem Nutzen ausschlachten könnte. Irgendetwas wird am Ende schon für ihn herausspringen.
Gäbe es in diesem Buch keine kriminellen Verstrickungen, gar Erpressungen und sogar Morde, so wäre es immer noch ein herrlich wendungsreiches Schelmenstück inmitten einer dörflichen Idylle. Schlag auf Schlag folgt ein amüsantes Ereignis auf das andere. Was gewisse Dummdödel an Kollateralschäden verursachen, kehren andere unter den Teppich, damit im Tal bloß alles wieder sauber und ordentlich aussieht wie eh und je. Mit anderen Worten: Dies ist ein Kriminalroman, dessen Akzent auf zweckfreier, guter Unterhaltung liegt, bei dem das Lachen nicht zu kurz kommt und der ein paar Stunden unbeschwerte Lesefreude garantiert.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2022 aufgenommen.