
Der Zauber der hölzernen Puppen
Jeder, der Sizilien bereist, wird ihnen irgendwo in persona begegnen: als Restaurant-Deko, im Museum, bei einem Trödler, bestenfalls auf einer Bühne. Ihr Anblick verzaubert, und staunend halten wir inne.
Die Rede ist von jenen bunt bemalten sizilianischen Marionetten, die, einen halben bis einen Meter groß, so ganz anders auftreten als ihre Kollegen in unseren Breiten. Das sind keine lustigen Tolpatsche, betulichen Gendarme oder Stars der Kinderliteratur, sondern stattliche Ritter in silbernen Rüstungen mit federgeschmückten Helmen. Sie tragen Schild und Schwert und schauen mit großen Augen teils streng, teils melancholisch drein. Ihre hohe Zeit, als sie mit kleinen Wanderbühnen über die Insel zogen, endete mit dem neunzehnten Jahrhundert, aber ihre Tradition lebt bis heute.
Das stundenlange Spektakel, das die pupari Abend für Abend auf den Dorfplätzen temperamentvoll veranstalteten, war die volkstümlich kondensierte, vielfältig variierte Version eines spätmittelalterlichen literarischen Meisterwerks, Ariosts Versepos »Orlando furioso«. Es enthält alle Zutaten eines Straßenfegers: Spannung, Tragik, Witz, Fantastik, Überraschung, Sinnlichkeit. Sarazenische Heiden stürmen heran, Kaiser Karl der Große ruft seine Paladine zur Wehr, blutige Schlachten und erbitterte Duelle werden ausgefochten, Unerhörtes muss geleistet werden, und es ist die Liebe, die für die größten Verwirrungen sorgt. Um die Ordnung wiederherzustellen, müssen die Helden Raum und Zeit überwinden, gar zum Mond fliegen.
Mit ihren Taten haften die klangvollen Namen der Protagonisten in sizilianischen Gedächtnissen: Carlo Magno, die fremdländischen Könige Agramante, Rodomonte, Marsilio, die Ritter Orlando, Astolfo und Gano, der Zauberer Atlante mit seinem Fabelwesen Hippogryph, halb Pferd, halb Greif, und schließlich Angelica, deren unvergleichliche exotische Schönheit Orlando tatsächlich den gesamten Verstand raubt. Über Jahrhunderte haben die immer wieder aufs Neue belebten Episoden Wertvorstellungen und Verhalten der Sizilianer beeinflusst, wie auch Kunst, Musik und Literatur. Auch Andrea Camilleris commissario Montalbano verliert zeitweise den Verstand, als er einer hinreißend schönen Bankangestellten namens Angelica begegnet [› Rezension]..
Den Autor Fabio Stassi (mit sizilianischen Wurzeln) haben die Marionetten und der Orlando-Stoffkomplex seit frühen Jahren fasziniert, aber erst jetzt hat er – nach einigen Vorstufen – die fertige Erzählung vorgelegt. »Angelica e le comete« ist ein leises, liebenswertes und intelligentes Spiel mit Magie und Realität, ein kleines literarisches Schmuckstück voller Zauber, Dramatik, Charme, sicilianità.
Das Kernmotiv von Stassis Geschichte ist, dass er seinen Marionetten – ähnlich wie Collodi in seinen »Avventure di Pinocchio« [› Rezension] – ein Eigenleben mit Sinneswahrnehmungen, Emotionen und Kommunikation untereinander zugesteht. Wenn man so einem sizilianischen Marionettenspektakel zuschaut, kann man ja tatsächlich den Eindruck gewinnen, dass die Puppen gelegentlich über die Stränge schlagen und die Spieler alle Register und Schnüre ziehen müssen, um sie unter Kontrolle zu halten.
Wie um die magische Sphäre zwischen Mensch und Puppe in der Waage zu halten, schickt der Autor eine Figur gewissermaßen auf den umgekehrten Weg. Angelica ist eine junge Ballerina, die sich, wegen ihrer Kleinwüchsigkeit in der bürgerlichen Welt ausgegrenzt, dem umherreisenden Marionettentheater angeschlossen hat und dessen Hauptattraktion geworden ist. Denn Cate, wie alle sie nennen, ist so klein, dass sie auf der Bühne mit den hölzernen Puppen auftreten kann. Ihr temperamentvoller Tanz bringt das Publikum zum Rasen, und alle Marionetten verfallen ihrer Schönheit – am innigsten Ardesio, der unscheinbare, wort- und statuslose Außenseiter. Während die großen Puppen-Heroen eindimensionale Typen bleiben (selbst der »rasende Roland« ist nur eine Nebenfigur), entwickelt sich Ardesio vom stummen Beobachter zum beherzt Eingreifenden. Raubt die Liebe Orlando seinen Verstand, so erweckt sie Ardesios Bewusstsein und erhebt ihn auf eine höhere Ebene.
Eine weitere reizvolle Zentralfigur ist der Theaterdirektor Lo Spagnolo, ein grüblerisches, störrisches Genie und schauspielerisches Naturtalent. Er spricht mehrere Sprachen, oft durcheinander, und obwohl er nicht lesen und schreiben kann, sind Bücher seine Leidenschaft. Seine wundersame synästhetische Begabung beschreibt Stassi so:
Dove chi sapeva leggere vedeva solo una sillaba, un verbo, una virgola, Lo Spagnolo immaginava tutta la storia che si voleva nominare. Le parole avevano per lui la mobilità di una marionetta, un’ossatura invisibile di legno e di fil di ferro, come se fossero sostenute anche loro da chiodi e cordicelle. C’erano parole che si potevano appendere a una bacchetta e altre che sembravano arabeschi su uno scudo, alcune lucide e altre da lucidare, parole di rame e di acciaio, di noce, di faggio, parole di stoffa e di piume verdi, parole a mezzaluna e a pinna di martello, parole disarmate e parole per parare i colpi, per inginocchiarsi o per tremare di rabbia, parole di pelle d’asina e parole traforate, parole impazienti e parole nascoste dietro una visiera o chiuse in una conchiglia, parole che si spaccavano orizzontalmente e lasciavano uscire un liquido rosso … Ogni sera, Lo Spagnolo le traduceva in azioni, in gesti, in volti, e non sbagliava mai.
So schmal Stassis Büchlein ist, so kunstvoll ist seine Struktur. Parallel zur Handlung auf der Bühne und zwischen den Marionetten werden die Lebensgeschichten des Spagnolo und seines Helfers, des riesenhaften, groben Bruciavento eingeflochten; wir erleben Neugier und Begeisterung der Dorfbewohner, und wir lesen das Drama des Theaters selbst. All dies ist die auktoriale Binnenerzählung, die, ganz nach klassischen Vorbildern, von einer Rahmenhandlung eingefasst wird. Die gibt dem Stoff selbst eine Art fantastisch-magischen Eigenlebens. Denn ein Ich-Erzähler namens Fabio Stassi, selbst Schriftsteller (wenn auch noch unsicher und unerfahren), findet in einem Antiquariat ein ziemlich mitgenommenes Bändchen mit dem Titel »Angelica e le comete«, geschrieben von einem gewissen Fabio Stassi. Der Ich-Erzähler hat jenes Büchlein seines Wissens nicht verfasst, wiewohl er sich schon an dem Stoff versucht und damit gar seinen weiteren schriftstellerischen Werdegang verknüpft hat.
Der Schauplatz der Rahmenerzählung ist Rom, wo der ›echte‹ Fabio Stassi als Universitätsbibliothekar arbeitet, der der Binnenerzählung das fiktive sizilianische Fischerdorf Kalamet (»all’estremo occidentale dell’isola«) in der Endzeit des bourbonischen »Königreichs beider Sizilien«. »Mille scintille rosse, con un fucile in spalla« – Garibaldis Freischärler ziehen schon über die Insel und werden Italiens Einheit erkämpfen.
Fabio Stassi, geboren 1962, schreibt seine Bücher im Pendlerzug zwischen Rom und seinem Wohnort Viterbo. Er wurde bereits mit zahlreichen Preisen geehrt, und sicher wird man noch viel von ihm hören. In seiner den Punkt treffenden feinen Sprache, kompakt, literarisch geschult und hoch evokativ, greift er gern alte Traditionen auf und verleiht ihnen neues Leben.