Beste Freundinnen
Welch ein Segen in der heutigen Zeit, eine wahre Freundin zu finden - und zu behalten!
Jean Vale Horemarsh aus Kotemee, NY, konnte dieses Glück lange nicht genießen. Aufopferungsvoll hat sie ihre Mutter Marjorie gepflegt, bis der Tod sie endlich von ihrem Leid erlöste. Während der letzten drei qualvollen Monate hat Jean sich oft vorgestellt, "wie es wäre, wenn ich ihr die Nase und den Mund zuhalten würde" - das zu tun, das brachte sie freilich nicht übers Herz. Jetzt hasst sie sich dafür, den "Gnadenakt" nicht vollzogen zu haben. Aber aus Fehlern lernen wir, und Jean ist erst fünfundvierzig.
Jeans Freundinnen hatten sie in ihrer schweren Zeit stets unterstützt und motiviert - zurückgegeben hat sie ihnen nie etwas. Vielmehr hatte Jean ihre Hilfe als Selbstverständlichkeit hingenommen. Wie egoistisch sie war ... Aber aus Fehlern lernen wir, und Jean beschließt reumütig: "Du musst mehr für andere tun." Die besten Freundinnen haben als erste Gutes verdient, zumal keine von ihnen mit Glück gesegnet ist.
Natalie: geschieden, unter Bluthochdruck leidend (was kein Wunder ist, wo doch bei ihr ohne Muffins gar nichts läuft ...).
Dorothy: ans Haus gefesselt, seit sie ihrem Ehemann Roy, einem Preisboxer, das Gehirn weggepustet haben. Wegen seiner "dementia pugilistica" muss sie ihn versorgen wie ein Kleinkind.
Adele: zwar materiell gut gestellt, dafür nagt der Krebs an ihr. Gerade musste sie eine Mastektomie überstehen.
Cheryl: verschollen. Jean weiß, dass sie Cheryl vor 37 Jahren im Stich gelassen hatte, dass sie Furchtbares durchgemacht hat, doch was aus ihr geworden ist, seit sie wegzog, weiß sie nicht. Mit ihr wieder Kontakt aufzunehmen ist Jean ein aufrichtiges Anliegen.
Cheryl geht es schlechter, als Jean es sich in ihren schlimmsten Träumen vorstellen konnte. Ihr Mann hat sie auf einem Schuldenberg sitzen lassen; Trost sucht sie im Alkohol, ihre dilettantischen Selbstmordversuche sind gescheitert.
Jean hat aus ihren Fehlern gelernt und weiß jetzt, wie jede wahre Freundin in solch einer hoffnungslosen Lage helfen sollte und würde. Aus reiner Nächstenliebe handelt sie nun entschlossen: Eine nach der anderen befördert sie hinaus aus ihrem irdischen Jammertal. Was soll's denn noch - schließlich ist der Lack ab, und Jean kann den Freundinnen wenigstens das Elend des Älterwerdens mit all seinen Unwägbarkeiten ersparen.
Bald aber dämmert ihr der Fluch der guten Tat: Was soll nun aus ihr werden, so ganz allein ohne Freundin? Wer wird ihr dereinst einen solchen Liebesdienst erweisen?
Auf Milt, ihren Ehemann, wird sie nicht zählen können. Der ist Englisch-Aushilfslehrer, ein Langweiler und Labersack, der "Do-it-yourself"-Ratgeber liest, im Haushalt aber keinen Finger rührt. Jean muss weiter lernen ...
Der Roman "Die pragmatische Jean" (Sky Nonhoff hat "Practical Jean" übersetzt) ist auch ein süffisant-makabres Spiel mit der wohlmeinenden Gedankenwelt vieler Frauen und mit überzogenem Freundinnen-Getue. Die Bühne dafür liefert Kotemee, eine amerikanische Bilderbuch-Kleinstadt mit Main Street, Park, Baseballteam, adretten Häuschen und vielen netten Leuten, wo niemand auch nur einer Fliege etwas zuleide tut.
Auch Jean würde niemand Böses zutrauen. Jeder mag die sympathische Frau aus gutem Elternhaus. Mutter Marjorie, eine Tierärztin, war dagegen unzufrieden: Während alle Verwandten etwas Grundsolides erlernt haben (Jeans Brüder sind beide Polizisten), sei Tochter Jean ein bisschen aus der Art geschlagen. Schon in jugendlichem Alter habe in dem Mädchen ein Freigeist, eine Künstlerseele geschlummert. Die entfaltete Jean später, indem sie sich der Töpferei zarter pflanzlicher Gebilde zuwandte. Zum weiteren Leidwesen ihrer Mutter hatte das Kind auch noch zwei linke Hände, war völlig "unpraktisch". Und das behindert Jean bis heute: Selten verlassen ihre filigranen Werke den Brennofen unversehrt; beim Transport zur Werkstatt oder spätestens beim Kunden zerbröseln sie endgültig. Auch an robusteren Gegenständen - wie etwa einem vielfältig nutzbaren Klappspaten - droht sie zu scheitern ... Aber da Jean aus ihren Fehlern lernt, hätte ihre Mutter heute Grund zu staunen, vielleicht sogar endlich stolz zu sein - auf die "andere Jean ... eine praktische Jean" mit zwei rechten Händen.
Trevor Cole stilisiert Jean keineswegs als krankes Psychowesen, sondern charakterisiert eine trockene, schräge good-will-Pragmatikerin, und das tut er voller Witz, mit bissigem Humor und rabenschwarzer Ironie.
Insgesamt ein wunderbar amüsanter, makabrer Krimi, nach dessen Lektüre Sie erleichtert in den Stoßseufzer einstimmen werden, den man in Kotemee bisweilen vernimmt: "Gott sei Dank war ich nie mit Jean Vale Horemarsh befreundet."