Blutgott
von Veit M. Etzold
Ein Perverser, der sich »Blutgott« nennt, nutzt das Internet, um minderjährige Jugendliche zu abartigen Morden zu verführen.
Und wo surft Ihr Kind?
Der Katalog abartiger Grausamkeiten, die in diesem Buch anschaulich und detailreich beschrieben werden, will kein Ende nehmen. Da werden Körperteile abgetrennt, Organe entfernt, Gesichtshaut abgezogen, und alles am lebenden Opfer. Es muss tatsächlich viele Menschen geben, die so etwas lesen mögen, denn dies ist ein Bestseller.
Die Schlachtszenen sind durch einen Plot verknüpft, dessen Grundidee realistischer sein mag als die Gewaltorgien. Im Dark Net wirbt ein perverser Krimineller, der sich »Blutgott« nennt, minderjährige, also strafunmündige Jugendliche an, um blutrünstige Morde auszuführen. Er nutzt dazu Methoden, denen junge Leute alltäglich im offenen Internet und den sogenannten »social media« ausgesetzt sind, wenn sie die Seiten von Influencern oder bestimmte Plattformen wie TikTok besuchen: Er reizt ihre Neugier, stachelt ihren natürlichen Wagemut, ihre Lust auf Tabuverletzung, auf das Ausleben ihrer Triebe, auf den Wettstreit mit Gleichaltrigen an, und er wiegt sie angesichts des geforderten Kapitalverbrechens in Sicherheit, indem er ihre gesetzlich garantierte Straffreiheit selbst bei Mord (nach Paragraph 19 Strafgesetzbuch) herauskehrt.
Die Handlung ist unkompliziert, der Erzählstil konventionell. Die Identität des »Blutgottes« ist bekannt, der unpersönliche allwissende Erzähler teilt uns in schnellen, kurzen Kapiteln mit, was an den verschiedenen Schauplätzen mit den jeweiligen Personen geschieht. Diverse staatliche Ermittlerteams (darunter die Pathopsychologin Clara Vidalis als Heldin der Romanreihe, die bereits sieben Titel umfasst) und ein sensationsgeiler Journalist setzen den Tätern nach, aber über ihre Arbeit erfahren wir so gut wie nichts, verglichen mit der der Schlächter, ihrer Methoden, Werkzeuge, Internetseiten. Gespannt ist man weniger, wann und wie den Kriminellen endlich das Handwerk gelegt wird, als darauf, welche Blutorgie sie sich als nächstes einfallen lassen werden. Nach der x-ten Vivisektion wird das allerdings gähnend langweilig. Die Figuren sind ausnahmslos flache Charaktere, ohne Ausarbeitung, geschweige denn Entwicklung ihrer Persönlichkeit. Wenn die jugendlichen Täter-Opfer erst einmal in der Falle des »Blutgottes« gefangen sind (»Dein Gott spricht zu dir.«), metzeln sie wie Maschinen, ohne Gefühle, ohne Skrupel, ohne Fragen. Bestürzend, aber sicher nicht unrealistisch, dass sich kein Erziehungsberechtigter um die Freizeitgestaltung dieser Sprösslinge Gedanken zu machen scheint.
Wenn menschliche Kunstäußerungen auf Identifikation zielen, um beim Publikum emotionale und intellektuelle Wirkungen wie Mitgefühl und Katharsis zu erzeugen und das Bewusstsein für moralisches Handeln zu schärfen, so frage ich mich, mit welcher Figur man sich bei »Blutgott« identifizieren kann. Mit dem Opfer, das unerträgliche Schmerzen durchleidet, bis er oder sie endlich daran versterben darf? Mit dem »Blutgott«, der sich diese Bestialitäten ausgedacht hat und (wenn es denn eine religiöse Metaphorik sein muss) in Wahrheit ein Teufel ist? Mit den fühllosen Tötungsmaschinen, die seine Anweisungen dumm und gnadenlos durchziehen?
Wozu so ein Buch? Man rechnet es der Gattung Splatter zu, die viele Fans hat, und Veit Etzold, 1973 in Bremen geboren, ist einer der ganz Großen in diesem Fach. Er kommt aus der Wirtschaft, weiß seine Produkte auf Markterfolg zu trimmen, seine Gemeinde an die Marke zu binden und ihre Zahl zu erweitern. Teil der Strategie dürfte sein, dass jeder Band die vorausgegangenen einerseits inhaltlich fortsetzen, andererseits übertreffen muss. Natürlich hat auch der Verlag wirtschaftliche Interessen und versendet großzügig Gratis-Exemplare, um neue Leserkreise zu erschließen. Das auffällige Cover und der Aufkleber »Spiegel-Bestseller-Autor« versprechen einen guten Thriller, und der Klappentext lässt nicht ahnen, dass den Leser im Grunde nichts anderes als Ekelhaftigkeiten erwarten.
Vor zehn Jahren habe ich Veit Etzolds »Das große Tier« gelesen und schrieb in meiner › Rezension: »Für mich war dieses Buch eine absolut neue Erfahrung. Es ist sicher kein Roman für Jedermann. Fans von Verschwörungsthrillern werden begeistert sein. Ich habe jedenfalls viel Neues gelernt und bin auf Zusammenhänge gestoßen, die mir so nie bewusst waren.« Das gilt nun auch für »Blutgott«, wenngleich ich die »neue Erfahrung« gern wieder löschen würde und nichts von dem, was ich hier »gelernt« habe, für wissenswert halte. Jeder, der zum ersten Mal liest, wie z.B. einer Frau »die Eingeweide aus der Vagina herausgezogen« werden, wird sich entsetzt abwenden. Wer derlei über vierhundert Seiten konsumiert (von sieben Bänden gar nicht zu reden), den kann nichts mehr erschüttern.
Erschreckend auch, dass, wie dieser Roman selbst thematisiert, all dies völlig frei im Internet und erst recht im Dark Web zugänglich ist. Veit Etzold lässt etliche Begriffe fallen, die in der einschlägigen Szene bekannt sein werden und die jeder, der neugierig wird, problemlos mit konkreten Inhalten füllen kann: »Blue Whale Challenge«, »Snuff Movies«, »Red Rooms«, »Gore Sites« …. Manche der Plattformen, um die es hier geht, können für Jugendliche lebensgefährlich sein.