Die Verbrechen hinter den Verbrechen
Seine Kollegen in der Crime Squad von Glasgow bezeichnen Detective Inspector Jack Laidlaw als »eigenbrötlerisch«. Tatsächlich ist er ein Idealist, ein Philosoph, ein ewig Zweifelnder, ein viel zu Guter. Ihn belastet das Gefühl, »den Falschen zu dienen« – einer Justiz, die »kaum Ahnung von der alltäglichen Tretmühle der Menschen« habe, mit Richtern, die ihre Urteile »ohne verständnisvolle Einsicht ins menschliche Herz« fällten. Unter dem Eindruck, dass die »schlimmsten Ungerechtigkeiten« nicht »persönlichen, sondern institutionellen, finanziellen oder politischen Umständen« entsprängen, trachtet er, das »Verbrechen hinter dem Verbrechen« aufzuklären, »das unantastbare Netz aus legal verankerter sozialer Ungerechtigkeit, auf das der jeweilige Fall kraftlos verweist«, zu zerreißen. Damit steht er freilich wie David einem übermächtigen Goliath gegenüber und muss, wenn er überhaupt eine Chance haben, etwas bewirken will, ungewöhnliche Ermittlungswege beschreiten.
Die neueste Konfrontation mit dem Tod wirft Laidlaw völlig aus der Bahn, denn sie trifft ihn persönlich. Sein jüngerer Bruder Scott, den er »vermutlich mehr geliebt hatte als irgendjemanden sonst«, ist vor ein Auto gelaufen. Eine tödliche Unachtsamkeit? Die polizeilichen Ermittlungen endeten mit der Erkenntnis, dass kein Verbrechen vorliege. Die Sinnlosigkeit eines solchen Todes kann Laidlaw nicht hinnehmen, kannte er Scott, einen Kunstlehrer, doch als sensiblen Menschen voller vielseitigem Potenzial und Zuversicht.
Einen Monat verkriecht sich Laidlaw in seiner kleinen Wohnung, heult, betäubt sein Elend mit Whisky. Er hat die Kontrolle über sein Leben verloren. Seine Familie, einst der Mittelpunkt seiner Existenz, ist unwiderruflich zerfallen. Die Trennung von Ehefrau Ena ist vollzogen, seine beiden Kinder darf er nur nach Absprache sehen, eine neue Beziehung befindet sich noch in einem »sinnlichen Schwebezustand«. Und nun hat er Scott auf ewig verloren.
Schon als Kind war Jack Scotts »Hüter«. In dieser Funktion, so wirft er sich vor, hat er jetzt kläglich versagt. Als sich die Brüder zwei Monate zuvor bei einer Kneipentour zuletzt gesehen hatten, war Scott bedrückt. Er gestand Jack, dass seine Ehe mit Anna am Ende sei. Doch Jack wollte davon nichts hören, da er ja selber tief in der eigenen Beziehungskatastrophe steckte, genügend eigene »Narben« hatte. Brüder sind auch Rivalen: Warum sollte es Scott besser gehen als ihm? Nun macht ihm seine mangelnde Sensibilität von damals zu schaffen.
Laidlaw möchte dem leeren Tod seines Bruders eine Bedeutung geben. Welche das sein könnte, ist ihm unklar; er will jedenfalls danach suchen. Dazu will er für eine Woche verreisen und auf eigene Faust recherchieren. Sein Ziel ist Graithnock (ein fiktives Abbild von McIlvanneys Heimatstadt Kilmarnock, südlich von Glasgow), wo Scott mit Anna und ihren Söhnen gewohnt hat.
Viele Fragezeichen erwarten ihn dort: »Wo hat der Unfall angefangen? [...] Wann hat das Leben meines Bruders seinen Sinn verloren? [...] Warum hat es sich verloren, bis wir's unter dem Auto gefunden haben? [...] Warum kommen die Besten um und den Schlimmsten geht es prächtig?« Um das Unbegreifliche zu begreifen, die Ungerechtigkeit zu verstehen, befragt er viele Leute, manche, die Scott nahestanden, andere, die ihn nur von ferne kannten, von der Arbeit, aus den Pubs.
»Fremde Treue« schließt William McIlvanneys Jack-Laidlaw-Trilogie ab (siehe Bibliographie am Ende). Der am 5. Dezember 2015 im Alter von 79 Jahren verstorbene schottische Autor, Drehbuchschreiber und Lyriker begründete mit ihren ersten Teilen (1977 und 1983 erschienen) die schottische Variante des Noir-Genres, gern als Tartan Noir bezeichnet. Im dritten Teil (1991 veröffentlicht) hat er diese Phase offensichtlich bereits hinter sich gelassen, denn es ist ein ungewöhnlicher, stiller Krimi ohne Action, Brutalität, aggressive Auseinandersetzungen. Jack Laidlaw geht psychologisch vor, schüchtert ein, nutzt Insiderwissen, erpresst Bosse und Kleinkriminelle, die, um sich nicht selbst zu gefährden, nicht preisgeben wollen, was sie wissen. Der eigentliche Krimiplot, der den Leser bei der Stange halten soll, kommt nicht mit Donnerhall und Paukenschlag daher, aber Rätsel gibt es genug: Anna, die wichtigste Bezugsperson, ist verschwunden. Scotts Freunde deuten an, dass er in irgendetwas verstrickt gewesen sei. In seiner Hinterlassenschaft findet sich ein Gemälde, das ein Geheimnis birgt. Laidlaw kommt nicht weiter, er »siebte Asche«. Bis er den Tod seines Bruders aufgeklärt hat, lässt der Autor nur winzige Verdachtsspuren ins Glas tröpfeln, deren unscheinbare Wellen gleich wieder zum Stillstand kommen.
Der Autor lässt seinen Protagonisten aus der Ich-Perspektive berichten. Das bindet den Leser enger an seinen feinfühligen Charakter. Als Kind der Arbeiterklasse steht er mit seinem Gerechtigkeitsempfinden den kleinen und großen Sündern auf Erden, selbst wenn sie gegen die Gesetze verstoßen, näher als jedem heuchlerischen Vermögenden oder skrupellosen Erfolgsmenschen. Wie ein rotes Band zieht sich dieses Motiv durch den Roman. Der unerwartete Schluss bestätigt Laidlaws Weltbild und lässt ihn im Tod des Bruders tatsächlich etwas Tieferes erkennen. Scott war sich und seinen Überzeugungen bis in den Tod treu.
Während der Detective Inspector bisher im Arbeitermilieu von Schottlands größter Stadt agierte, ermittelt er dieses Mal quasi in der Provinz (wo die Verhältnisse nicht besser sind). Die Reise nach Graithnock ist aber auch eine Reise in Laidlaws Seele. Die Suche nach dem Sinn von Scotts Tod ist auch eine Reflexion über Wahrheit, Moral, Schuld, Verlust und den Tod. Der Protagonist spielt dabei wie immer seinen scharfen Witz, seinen bitteren Zynismus aus (auch gegen sich selbst), wirkt hier aber weniger schroff als in den Tartan-Noir-Vorgängern, dafür nachdenklicher, tiefer. Er nimmt die »Schatten« seines eigenen Lebens wahr, erkennt die »Schwärze« in sich selber. Diese Erkenntnisse nimmt er mit Dankbarkeit an, als letztes Geschenk von seinem geliebten toten Bruder.
Die Neuausgaben der Laidlaw-Trilogie:
• »Laidlaw« (Laidlaw Trilogy 1) (Erstausgabe 1977; Neuausgabe Juni 2014) | »Laidlaw« (Erstausgabe 1979 unter dem Titel »Im Grunde ein ganz armer Hund«; Neuübersetzung von Conny Lösch, September 2014);
• »The Papers of Tony Veitch« (1983; Juni 2013) | »Die Suche nach Tony Veitch« (Übersetzung von Conny Lösch, Februar 2015) [› Rezension];
• »Strange Loyalties« (1991; Juni 2013) | »Fremde Treue« (Übersetzung von Conny Lösch, September 2015) [› Rezension].