Diesmal schenken wir uns nichts: Geschichten für eine entspannte Weihnachtszeit
von Ursula Baumhauer [Hrsg.]
Gute Geschichten sind gute Geschenke
Die weihnachtlichen Taschenbücher aus dem Diogenes-Verlag haben Tradition. Obwohl bereits mehr als ein Dutzend Sammlungen erschienen sind, gelingt es den Herausgebern immer noch, neue Texte ausfindig zu machen, die dem Anlass angemessen sind, das Thema nicht trivialisieren. Ob heiter, besinnlich, romantisch oder mit Krimi-Anstrich, die ausgesuchten Autoren haben etwas zu sagen, bereichern den Leser mit einer neuen Façette desjenigen christlichen Fests, das die Menschen wie kein anderes anspricht. Dass sich sein religiöser Kern für die Mehrheit in Nichts aufgelöst hat und dafür ein gigantischer kommerzieller Überbau wuchert, ist in unserer Zeit kein einmaliges Phänomen und nicht reversibel. Aber würden wir nicht unsere kulturellen Wurzeln kappen, wenn wir dem sinnentleerten Materialismus ganz unkommentiert das Feld überließen? Dieser Band von Erzählungen – unterhaltsam, unaufdringlich, ohne jede Rührseligkeit – kann das Nachdenken anstoßen, wenn man dafür empfänglich ist. Man kann ihn auch einfach nur als gute Literatur genießen.
Das diesjährige Thema Schenken ist ein ur-weihnachtliches. Schon die Könige aus dem Morgenland brachten dem Jesuskind ja teure Gaben an seine Krippe. Der Diogenes-Titel greift die Skepsis auf, die heute mit dem Schenken verbunden ist. Ganz aus der Routine auszusteigen (»Diesmal schenken wir uns nichts.«) ist eine von mehreren Optionen. Über den Paarbereich hinaus ist der Vorsatz freilich nicht leicht durchzuhalten. Ach, die Kinder werden doch traurig sein! Wenn wir schon das ganze Jahr über so wenig Zeit für die alten Eltern erübrigen konnten, sollen sie wenigstens zu Weihnachten mit einem Geschenk beglückt werden! Und schon ist der bekannte Druck wieder da. Wir hasten durch die Innenstadt und suchen verzweifelt nach dem einen Gegenstand, den sie/er noch nicht besitzt. (Darauf, dass jemand etwas Käufliches wirklich braucht, darf man kaum noch hoffen.) Bei diesem Prozedere zählt am Ende nicht die teure Krawatte oder Halskette als das wahre Geschenk, sondern die selbstlose Opferung wertvoller Zeit und Nerven beim Erwerb der Objekte. Selbst dieser Bonus geht verloren, wenn »Schenken« zu einem Klick verkümmert: »In den Warenkorb« ...
Zwanzig inhaltlich breit gefächerte Erzählungen, Romanausschnitte und weitere Textsorten hat Ursula Baumhauer für diese Anthologie zusammengestellt. Etwa ein Viertel davon stammt von ›klassischen‹ Schriftstellern (E.T.A. Hoffmann, Fontane, Èechov, Kaschnitz, Kästner – keine einzige davon ist ›abgegriffen‹), die anderen von schweizerischen, deutschen und renommierten Autoren anderer Nationen von Paolo Coelho über Patricia Highsmith bis Dennis Lehane und Anna Stothard. Drei Geschichten wurden extra für diese Ausgabe geschrieben.
Bücher und Musik-CDs für die Advents-
und Weihnachtszeit finden Sie hier.
Von unerfüllbaren Wünschen handelt Anna Stothards Erzählung. Angel, 22, arbeitet als Wahrsagerin bei einer teuren Hotline. Ihre Sensibilität qualifiziert sie für diese Tätigkeit, und gleichzeitig ist sie die Ursache dafür, dass die Arbeit sie belastet. Sie spürt die Probleme und Nöte der Menschen, die sie anrufen, am eigenen Leib, ihre Traurigkeit, Einsamkeit, Schuldgefühle. Auch an Heiligabend sitzt Angel allein in ihrem schäbigen Zimmer und muss Fröhlichkeit mimen, um die gedrückte Stimmung fremder Anrufer aufzuhellen. Anruferin Nr. 17 stellt sich als Samantha vor und ist im Übrigen recht einsilbig. Nur zögerlich gibt sie Details des furchtbaren menschlichen Verlusts preis, über den sie nicht hinwegkommt. Je mehr sie von ihrer traurigen Geschichte erzählt, desto bekannter erscheint sie ihrer Zuhörerin. Angels eigener Seelenzustand ist mit dieser dramatischen Enthüllung verquickt ...
In Astrid Rosenfelds Geschichte »Ich bin der Auerhahn« geraten einander widerstrebende Wünsche in Konflikt. Der fünfjährige Paul findet kaum Beachtung in der chaotischen Patchworkfamilie, die ihn umgibt. Papa hat eine neue Beziehung und verbringt sein Weihnachtsfest in Spanien. Mama Deborah wird zu ihrem Vater fahren. Der liegt im Hospiz, und ausgerechnet am Heiligen Abend muss man mit seinem Ableben rechnen. Pauls Schwester Anna, dreizehn, hat überhaupt keinen Nerv für ihn, denn ihre Antennen sind voll auf Ron, ihren neuen Schwarm, gerichtet. Ständig hängt sie auf Facebook herum und wartet auf seine Posts. Neuerdings will sie kein Fleisch mehr essen, und Weihnachtsgeschenke sind ja sowas von daneben, wie ihr Ron mit seinem Gerede über den Scheiß-Kapitalismus, der die ganze Welt kaputt macht, beigebracht hat. Mamas neuer Lover heißt Holger. Er würde gern mit ihr zusammenziehen, aber bei den Kindern konnte er bisher noch keine Schnitte machen. Weil Mama bei Opa ist, soll Holger mit den Kindern Weihnachten feiern. Als Friedensstifter muss ein Truthahn her, dazu tolle Präsente. Paul weiß, wer die Geschenke besorgt: Mama. Trotzdem vertraut er dem lieben Gott sein Leid und seine Wünsche an: »Manchmal bin ich aleine und das ist nicht schön und dann hätte ich so gern einen Hund.«
So alltagsnah Astrid Rosenfelds Erzählung, so von fern kommt die Episode »Weihnachtsmorgen« aus Theodor Fontanes erstem Roman »Vor dem Sturm« (1878). Wir befinden uns im Winter 1812/13 auf Schloss Hohen-Vietz, ganz oben in der Spitzenetage der preußischen Ständegesellschaft, und schauen hinab auf deren Grund. Die Zeiten unter der napoleonischen Besatzung sind hart, die patriotische Bewegung gegen die Franzosen wächst, unter dem Druck hält das Volk zusammen. Bevor die adlige Familie derer von Vitzewitz am Weihnachtsmorgen selber zur Bescherung schreitet (ein »Festzug«), werden Notleidende, Kranke und Alte aus dem Dorf mit Gaben bedacht. »Die Kranken erhielten eine Suppe, die Krüppel ein Almosen, alle einen Festkuchen.« Mägde schütten den Kindern Äpfel und Nüsse in die mitgebrachten Säcke und Taschen. »Niemand drängte vor; jeder wusste, dass ihm das Seine werden würde.« »Wir leben in wunderbaren Tagen«, sagt der alte Vitzewitz.
Fast am Schluss des Buches – mit 288 Seiten keine Luftnummer – stellt Rolf Dobelli in seinem »Weihnachtsfragebogen« (2013 in der Zürcher Weltwoche erstmals abgedruckt) achtzehn hintergründige Fragen zur Bedeutung, die wir selbst dem Schenken beimessen: »Was ist Ihnen lieber: ein brauchbares Geschenk oder eines, das von Herzen kommt?« – »Wie würden Sie sich als Bettler für Almosen bedanken?« – »Empfinden Sie die Tatsache, dass Sie existieren, als Geschenk, und wenn ja, von wem?«
»Diesmal schenken wir uns nichts« bietet jedem Leser eine zu seinem Lieblingsgenre passende Erzählung. Romantisch ist Anton Èechovs rasante Schlittenfahrt (aus »Angst. Sieben Geschichten von der Liebe«), skurril und spannend Dennis Lehanes »Der Barkeeper« (aus dem Mafia-Thriller »The Drop«), zum Vorlesen für die ganze Familie am Weihnachtsabend eignet sich »Der kleine Mann und das große Geschenk« (aus Erich Kästners »Roman für Kinder« »Der kleine Mann und die kleine Miss«), und für alle Business People illustriert der unnachahmliche Martin Suter, wie man im Unternehmen die Devise »Tue Gutes und rede davon« zielführend umsetzt (»Alle Jahre wieder – das Kundengeschenk«, ursprünglich aus der NZZ).
Sollten Sie mit Ihrer Partnerin oder Ihrem Partner übrigens vereinbart haben, sich diesmal wirklich gar nichts zu schenken, so lassen Sie sich bitte nicht davon abhalten, sie/ihn wenigstens mit einer winzigen Aufmerksamkeit zu überraschen. Dieses Buch eignet sich bestens dazu – und ist doch wirklich fast nichts.