Rezension zu »Ein anderer Takt« von William Melvin Kelley

Ein anderer Takt

von


Eine ganze Gemeinde von Farbigen verlässt ihr Dorf in den US-Südstaaten und lösen einen Massenexodus aus. Endlich sind die Weißen unter sich. Jetzt können sie sehen, wie sie klarkommen.
Belletristik · Hoffmann und Campe · · 304 S. · ISBN 9783455006261
Sprache: de · Herkunft: us

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Lehrstück vom Miteinander

Rezension vom 16.01.2020 · 3 x als hilfreich bewertet mit 1 Kommentaren

Die weißen Männer von Sutton können kaum glauben, was sich vor ihren Augen abspielt. Wie im Kino sitzen sie in Grüppchen auf ihren Veranden, schlürfen Wiskey, kommen­tieren und dozieren, vor allem aber staunen sie. Scharen­weise ziehen ihre farbigen Mitbürger allein oder mit ihren Familien an ihnen vorbei. In ihrer besten Kleidung und mit Sack und Pack beladen verlassen sie den Ort, und ganz offen­sichtlich hat niemand von ihnen vor, jemals zurückzu­kehren.

Selbst Mister Harper, den pensionierten Army-Veteranen, dem alle respekt­voll lauschen, wenn er »Hof hält« und seiner Schar die Willkür der nicht zu ändernden Welt erklärt, riss es drei Tage zuvor förmlich aus seinem Rollstuhl, als er an einem ganz normalen Donners­tag im Sommer 1957 unfass­bare Vorgänge auf der Farm von Tucker Caliban bemerkte. Der junge Afro­ameri­kaner, schmäch­tig, besonnen und wortkarg, hatte einen Lastwagen voller Steinsalz kommen lassen und kontami­nierte damit eigen­händig die Felder, die er erst ein Jahr zuvor erworben hatte. Dann erschoss er sein Pferd und seine Kuh, fällte einen alten Baum, demo­lierte seine Standuhr (ein Erbstück) und brannte schließ­lich sein Haus nieder, bis seine hoch­schwan­gere Frau Bethrah das Zeichen zum Aufbruch gab: »Wir sind soweit.« Ohne ein Wort an die perplexen Zuschauer zu richten, zog die kleine Familie mit Baby und roter Stoff­reise­tasche von dannen.

Was die Männertruppe beobachtete, ist ein Start­schuss. Wie Zeitungen und Radio bald berichten, sind die Farbigen im ganzen Staat (fiktiv und zwischen Alabama und Missis­sippi gelegen) mit Eisenbahn und Bussen in die Nachbar­staaten aufge­brochen. »Einige sangen Kirchen­lieder und Spiri­tuals, doch die meisten schlurf­ten schwei­gend, in Gedanken versunken und innerlich jubilie­rend, weil sie wussten, dass man sie nicht aufhalten konnte«.

Die Weißen begreifen nicht annähernd, was vor sich geht und warum. Mister Harpers Erklärung von der »Stimme des Blutes« mögen seine Zuhörer ebenso wenig glauben wie der in den Süd­staaten kühnen Behaup­tung eines anderen, die Farbigen »hätten ein Recht darauf zu gehen«. Vergeb­lich haben Männer versucht, sie aufzu­halten, ihnen die Koffer zu entreißen – der fried­liche Exodus zieht ein Drittel der Bevölke­rung ab. Der Gouver­neur beruhigt seine Weißen: »Wir haben sie nie gewollt, wir haben sie nie gebraucht, und wir werden sehr gut ohne sie zurecht­kommen.«

Es ist eine außergewöhnliche, faszinierende und intelligente Dystopie, die der US-afrika­nische Schrift­steller William Melvin Kelley (1938-2017) in seinem Debüt­roman von vielen aus­schließ­lich weißen Stimmen in lakoni­schem Stil entwi­ckeln lässt. »A Different Drummer« William Melvin Kelley: »A Different Drummer« bei Amazon erschien 1962, wurde von der New York Times gerühmt und sein Autor, erst 24, mit Lite­ratur­größen wie William Faulkner und James Baldwin vergli­chen. Dennoch gerieten Roman und Autor in Ver­gessen­heit. Die amerika­nische Journa­listin Kathryn Schulz entdeckte das Buch zufällig in einem Trödel­laden und initi­ierte eine Neuaus­gabe, zu der sie das Vorwort schrieb. Dirk van Gunsteren, Spezia­list für US-Lite­ratur, über­setzte das 2018 erschie­nene Buch für Hoffmann und Campe ins Deutsche. Den zur Ent­stehungs­zeit üblichen Sprach­gebrauch behielt er erfreu­licher­weise ohne political-correct­ness-Kosmetik bei (»Neger«, »Nigger« etc.).

Die konsequente Einseitigkeit der Perspektive, den unge­heuer­lichen Massen­auszug der Farbigen nur aus Sicht der Weißen von Sutton darzu­stellen, ist ein effekt­voller Kunst­griff. Mit ihren Beobach­tungen, Aussagen und Taten treten die Weißen als besondere Spezies zwischen Reprä­senta­tivität und histori­scher Einzig­artig­keit auf.

Einerseits sind sie glücklich, die »Nigger«, »Bimbos« und »Briketts« »von der Backe« zu haben. Naiv und dumpf­backig sind sie überzeugt, ohne diese Gruppe weiter leben zu können wie bisher – als arro­gante Nichts­tuer und Tage­diebe. Doch dann dämmert ihnen, dass sie von den Farbigen wirt­schaft­lich abhängig sind. Sie erledigen nicht nur die Arbeiten, für die sich die Weißen zu fein sind. Sie fehlen auch als Geld bringende Käufer in den Läden der Weißen, die ohnehin schon schlecht genug laufen.

Andererseits sind es keine Extremisten oder Rassisten, die der Autor als fiktive Haupt­perso­nen, teils als Ich-Erzähler seines Romans auser­koren hat. Nachein­ander kommen einzelne Mit­glieder der einfluss­reichen und vermö­genden Familie Willson ins Bild, die seit jeher einen humanen Umgang mit den Dunkel­häutigen pflegt. Zu Tucker Caliban, der wie seine Vorfahren im Haushalt, auf dem Feld und in den Stal­lungen zu Diensten ist, hat jeder eine besondere Beziehung.

Urahn Dewitt Willson war im Bürgerkrieg General der Konföde­rierten, später Gouver­neur des fiktio­nalen Staates und Sklaven­halter. Er kaufte einen hünen­haften Afrikaner in Fesseln samt dessen kleinen Sohn. Zwar konnte sich der Riese in einem mörderi­schen Akt von seinen Ketten befreien – das Ereignis wurde zum Mythos –, entging aber nicht der Erschla­gung durch seinen Besitzer. Das Kind des helden­haften Sklaven bedachte Dewitt Willson mit dem Namen des »Wilden« in Shake­speares »Sturm«: Caliban, und vermachte ihm auch die edle Standuhr, ein Ding­symbol, das Jahr­zehnte später auf dem erwor­benen Stück Land zerhackt wird.

Dewitt Willsons Sohn David ist ein aufgeklärter Mann. Er studiert im Norden, sympa­thisiert mit kom­munisti­schen Ideen und will als Jour­nalist auf­klären. Doch die guten Vorsätze für sein Leben und für eine gesell­schaft­liche Verände­rung gegen den systema­tischen Rassis­mus scheitern.

Tucker Caliban, der Urenkel des Kettensprengers, wächst mit Dewey Willson III, dem Enkel des Generals, als Freund, fast wie ein Bruder auf. Als Dewey einmal zu spät zum Abend­essen kommt, weil Tucker ihm das Radfahren bei­brachte, verprü­gelt der gestrenge Vater David den Neger­jungen, nicht seinen Sohn. Obwohl der sich schuldig fühlt, spricht er mit Tucker nie darüber. Bei seiner Heim­kehr vom College Jahre später freut er sich darauf, Tucker und Bethrah begrüßen können, doch es ist zu spät: Sie haben alle Zelte hinter sich abge­brochen.

Nirgendwo im Handlungsverlauf erfahren wir, dass sich die Farbigen über ihren Status als Bürger zweiter Klasse beklagt hätten. Die weißen Bericht­erstatter haben dafür keine Ader. Die Demüti­gungen, die Afro­ameri­kaner bis zum heutigen Tag ertragen, haben tiefe Wurzeln ge­schlagen und erschlie­ßen sich erst im Rückblick auf das Schlüssel­ereignis, den zum Mythos gewor­denen Kraftakt des »Afrika­ners«, dem das Un­vorstell­bare, Über­mensch­liche gelang, sich selbst zu befreien, und der doch keine Freiheit erlangen konnte.

Sein Nachfahre Tucker Caliban ist die Leitfigur in diesem Roman. In seinem Wesen vereint er Menschen­würde, Mut, Fried­fertig­keit und das beein­druckende Erbe seiner Ahnen. Trotz Erniedri­gung, Unter­drückung und Gewalt über Genera­tionen ist es der Süd­staaten­gesell­schaft nicht gelungen, diese Identität zu zerstören, ihre Verbin­dung mit der Ver­gangen­heit zu kappen. Bemer­kens­werter­weise entlar­ven die weißen Erzähler selbst, dass die Geschich­ten, die sie einander seit Langem auf­tischen, um ihre Über­legen­heit zu glorifi­zieren und die Minder­wertig­keit ihrer Leib­eigenen zu zemen­tieren, nichts als Hirnge­spinste und Lügen sind.

Das Ende illustriert mit bitterem Sarkas­mus, wohin sich eine Gesell­schaft bewegt, die auf Ausgren­zung und Unter­drückung setzt und sich einer ratio­nalen Aus­einander­setzung mit der Realität verwei­gert. Der weiße Mob lässt Hass und Rache­gelüste an einem – natürlich farbigen – Sünden­bock aus.

Vor über einem halben Jahrhundert verfasst, während die amerika­nische Bürger­rechts­bewe­gung an Rücken­wind gewann, ist dieser beein­druckende Roman erstaun­lich hell­sichtig und des­wegen einer Neu­entde­ckung wahrlich würdig. Nicht nur in Donald Trumps neu­großem Amerika erweist er sich als hoch­aktuell, sondern, wenn man seine Bot­schaft etwas allge­meiner versteht, in vielen Ländern, die sich eng­stirnigen, fremden­feindli­chen, ego­zentri­schen Popu­listen ausliefern und ihre Freiheit und ihren Wohl­stand aufs Spiel setzen. Auch wir Europäer sind im Zeitalter der Globali­sierung in vielerlei Hinsicht auf ein Mitein­ander ange­wiesen: Wenn wir unsere aufstiegs­willigen Zuwan­derer aus­grenzen, anstatt ihnen Chancen zur Partizi­pation zu eröffnen, gefährden wir die Basis unseres Wohl­stands und unseres Komforts. Wenn wir anderen Ländern keine Chance geben, ihre Märkte zu ent­wickeln und ihre Produkte bei uns zu verkaufen (etwa Lebens­mittel aus Afrika oder Süd­amerika), stehen wir als Export­nationen irgend­wann ohne Käufer da.


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Kommentare

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Zu »Ein anderer Takt« von William Melvin Kelley wurden 1 Kommentare verfasst:

Mikka schrieb am 18.01.2020:

Hallo,

das Buch ist mir schon in der Vorschau ins Auge gesprungen, doch deine Rezension bestärkt mich in der Überzeugung, dass ich es lesen muss. Es ist ernüchternd, dass da Buch nach all den Jahren nichts von seiner Aktualität verloren hat... Nicht nur in Amerika laufen die Uhren rückwärts.

LG,
Mikka

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