Rezension zu »Schweigend steht der Wald« von Wolfram Fleischhauer

Schweigend steht der Wald

von


Belletristik · Droemer · · Gebunden · 400 S. · ISBN 9783426198544
Sprache: de · Herkunft: de

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Spannende Bodensondierungen in der Provinz

Rezension vom 06.01.2015 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Forststudentin Anja Grimm hat eine Praktikumsstelle im oberpfälzischen Forst­amt Waldmünchen, nahe der tsche­chi­schen Grenze. Mit ihrem Kollegen Michel Ober­mül­ler, 45, durchkämmt sie seit drei Wochen die Gemarkungen Faunried, Ley­bach, Hain­gries und Hin­ter­wei­her, rammt alle fünfzig Meter Metallstan­gen in die Erde, nimmt Bo­den­pro­ben, untersucht die Zu­sam­men­set­zung der Erdschichten, bestimmt den Was­ser­haus­halt, wertet die Ergebnisse am Computer aus.

Die Gegend ist Anja nicht unbekannt. Zwanzig Jahre zuvor hatte sie mit ihren Eltern zwei Mal die Som­mer­fe­ri­en in Faunried verbracht. Johannes und Helene Grimm und ihre Achtjährige mieteten da­mals, Ende der Sieb­zi­ger­jah­re, ein Fremdenzimmer auf dem Hof der Familie Gollas. Mit deren Söhnen Lukas und Rupert tollte Anja unbekümmert über Feld und Flur. Aber beim zweiten Aufenthalt verschwand Johannes Grimm spurlos. Die Polizei er­mit­tel­te wochenlang. Eine Zeit lang verdächtigte man Xaver Leybach, den »Dorf­dep­pen«, ihn ermordet zu haben, musste den Fall aber am Ende ungelöst als wahr­schein­li­chen Wan­der­un­fall zu den Akten legen.

An jene Zeit erinnert sich Anja nur noch vage. Beim Wiedersehen mit den Weilerhöfen, eingebettet in die »leicht hügelige Landschaft«, überkommen sie wi­der­sprüch­li­che Emp­fin­dun­gen zwischen Arg­wohn und Sehn­sucht.

Bei ihrer Begehung mit Michel ist Anja hingegen uneingeschränkt fasziniert von der unberührten, verlas­senen Natur, der »Stille im Wald«. Dichter Fichtenbewuchs, darunter vermoderndes Totholz und wild wu­chernde Dor­nen­bü­sche der Brom­bee­re und Schlehe – an diesen einzigartigen, verwunschenen »Mär­chen­wald« hat seit Jahren kein Mensch Hand angelegt. Einsam ist es hier; nur einmal beobachtet sie jemand verstohlen mit dem Fernglas.

Bei einer Parzelle in Haingries hält sie verwundert inne: Ihre alte Karte weist hier eindeutig einen Fichten­wald aus, doch was sie sieht, ist eine Wiese mit Hochsitz am Waldrand, eine »Wildwiese«. Während sie ih­ren Gedanken nachhängt, nä­hert sich ihnen ein grob­schläch­ti­ger, verwahrlost wirkender alter Mann in ku­rio­ser Aufmachung. Derbe, dunkle Forst­be­klei­dung im Nachkriegsstil, eine Schirmmütze mit greller Dün­ge­mit­tel­wer­bung in krassem Gegensatz dazu, und über der Schulter am Lederriemen ein Drillingsge­wehr, zweifellos schussbereit. Wütend herrscht er Anja an, und Michel schnauzt zurück. Was die beiden Männer in ihrem Dialekt sprechen, versteht Anja nicht, aber auf einmal erkennt sie den bärtigen Alten an seinem verstümmelten Finger. »Xaver?«, fragt sie. »Ich bin's doch nur. Die Grimm Anja.« Damals hatte er, dreimal so alt, aber nicht ganz richtig im Kopf, mit ihr und den anderen Kindern friedlich zusammen ge­spielt. Keiner Fliege konnte er etwas zu Leide tun. Immer noch ärgerlich trottet er jetzt davon – für dieses Mal.

Die Wildwiese irritiert Anja auch am nächsten Tag wieder. Ihre Bodenproben belegen Un­stim­mig­kei­ten im Profil. Wurde hier Bauschutt oder Giftmüll abgelagert, später alles gerodet und dann die Wiese ange­legt? Anja könnte sich gelassener damit auseinandersetzen, müsste sie nicht damit rechnen, auf Spuren ih­res Vaters zu stoßen. Am Vortag seines Verschwindens war sie noch mit ihm im Wald gewesen. Die Ge­wiss­heit, dass hier etwas vergraben worden sein musste, treibt sie an, lässt sie kaum klar denken, vor allem, nach­dem Xaver sie auf der Wiese erneut mit seinem Gewehr bedroht: »Niemand darf hier sein. Vater hat es verboten.«

Am Tag darauf baumelt Xaver Leybachs regloser Körper in drei Meter Höhe von der Leiter zum Hochsitz, und im Stall des Leybachhofs findet man die blutüberströmte Leiche seiner Mutter Anna, offenbar mit ei­nem Spaten erschlagen. Seit Jahren hatte sie pflegebedürftig in ihrem Bett gelegen, und Xaver hatte sich im Rah­men seiner Möglichkeiten um sie gekümmert. Hatte Xaver nun tatsächlich die Kontrolle über seine Ag­gres­sio­nen verloren, wie Anja und Michel schon auf der Wildwiese befürchtet hatten? Doch hätte er seine hilflose alte Mutter ermorden wollen, hätte es bequemere Methoden gegeben, als sie erst in den Stall zu schleifen.

»Schweigend steht der Wald« – der Titel spielt mit den Erwartungen an eine pathetische Heimatschnulze. Doch Wolfram Fleischhauers Roman ist ein gänzlich unromantischer, rationaler Krimi, der den Leser von der ersten Zeile an gefangen nimmt. Er führt uns in eine raue Gegend, die aus der Zeit gefallen scheint. Neben bescheidener Land- und Forstwirtschaft hofft man auf den Tourismus als Einkommensquelle. Doch wegen ihrer Randla­ge und mancherlei Rückständigkeit findet sie selten die Aufmerksamkeit der Medien. Der Autor schildert die herbe Atmosphäre der östlichen Oberpfalz, beschreibt anschaulich die her­un­ter­ge­kom­me­nen alten Höfe mit ihren verräucherten, niedrigen Küchen und düsteren, aus uralten Balken ge­füg­ten Ställen und Scheu­nen. Die weitläufigen Wälder evozieren, selbst wenn sie bewirtschaftet sind, einen Bannkreis von unberühr­ter Ursprünglichkeit, der alles Fremde abweist.

Hier siedelt Fleischhauer eine Handlung an, die sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt und den Leser nie­mals loslässt. Was zunächst nach einem Thriller über das unaufgeklärte Verbrechen eines Psychopathen ausschaut, weitet sich schnell, wenn die familiäre Vorgeschichte, die ihn prägte, ausgebreitet wird. Noch weiter in der Vergangenheit – und in den Tiefen des Bodens – schlummern Abgründe an Gewalttaten, die mehrere Familien betreffen und die eine eingeschworene Männergemeinschaft bis in die Gegenwart unter einem Mantel eisernen Schweigen verborgen halten möchte.

Nun kommt ein junges Ding daher – angeblich, um die Gegend zu kartieren – und bringt Unruhe wie einst ihr Vater, »ein linker Spinner«, der behauptete, die Tannen seien krank, bis er eines Tages auf Nimmerwie­dersehen verschwand. Trotz des damaligen Aufsehens im weiten Umkreis gelang es den maßgeblichen Männern in Zusammenarbeit mit der Polizei, ihre Geheimnisse zu vertuschen, und sie werden alles daran setzen, dass »diese Sache« sie nach so vielen Jahren nicht doch noch einholt.

Viel mehr darf hier nicht verraten werden. Zwar sind Handlung und Charaktere rein fiktiv, doch liegen trau­ri­ge, aber wenig bekannte historische Wahrheiten zugrunde, die der Autor gründlich recherchiert hat. In seinem außerordentlich spannenden Roman entwickelt er nicht nur ungewöhnliche Persönlichkeiten und Biografien, sondern arbeitet auch die reale Geschichte auf, und nebenbei erfahren wir, wie Fragen nach Recht, Gesetz und Moral je nach Zeit und Perspektive unterschiedlich beantwortet wurden. Der Autor sel­ber enthält sich seines Urteils.

Fleischhauers Erzählstil weist keine profilierenden Merkmale auf, aber höchst interessant ist, was er an Fachwissen über Flora, Fauna und Forstwirtschaft einfließen lässt. Seine wichtigste Vermittlerin ist die Pro­ta­go­nis­tin, die überdies nicht zufällig den Nachnamen Grimm trägt: Sie »liest den Wald wie keiner von uns«, und wo doch bereits der Romantitel an den Standard-Topos des deutschen Märchens erinnert, über­rascht es nicht, dass ihr (und uns) auch eine faszinierende psychologische Interpretation über das »Mär­chen­wald­prin­zip« und die »Hänsel-und-Gretel-Methode« zuteil wird.


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