Ich möchte eine Tochter sein
Schon bevor mein Mann und ich im Herbst China bereisten, hatten wir von der Ein-Kind-Politik (gemäß Beschluss des Nationalen Volkskongresses vom 1. September 2002) gehört und gelesen. Beim Anblick der hübsch gekleideten Einzelkinder (viele davon kleine Prinzessinnen und Prinzen), die uns in Schulklassen oder an Großmutters Hand begegneten, schien uns die Maßnahme zur Linderung der Folgen von Maos Aufruf, China groß und stark zu machen, sinnvoll. Doch nach Tagen der vertrauensvollen Annäherung ließ unsere Reiseleiterin durchblicken, welches Elend dieses Gesetz für viele junge Paare bedeutet. Wenn gewollt oder ungewollt ein weiteres Kind geboren wird, droht sozialer und finanzieller Abstieg. Neben Problemen bei Kindergarten- und Schulplätzen sind drastische Strafen zu erwarten, wie die Zuteilung einer kleineren Wohnung, Arbeitsplatzverlust, die Streichung des Kindergeldes, der Übernahme von Arztkosten, des Rentenanspruchs.
Kein Wunder, dass die Zwangsunterdrückung des Kinderwunsches viele psychisch belastet. Um jedes Risiko zu vermeiden, lassen sich viele Frauen gleich nach der Geburt ihres ersten Kindes sterilisieren. Tritt eine zweite Schwangerschaft ein, fördert die Regierung ganz offiziell die Abtreibung und belohnt sie durch bezahlten Urlaub.
Weit verbreitet ist zudem die Bevorzugung eines männlichen Nachkommen; Mädchen gelten als minderwertig. Da ist es für viele Paare verlockend, frühzeitig das Geschlecht des Embryos zu ermitteln. Die pränatale Geschlechtsbestimmung ist jedoch strengstens verboten. Wird ein Mädchen geboren, so wird es oft zur Adoption freigegeben, insbesondere wenn es das zweite Kind ist. Wie werden Mutter und Kind mit solchen Erlebnissen fertig?
Im November 2011 erschien bei Droemer Xue Xinrans Roman "Wolkentöchter" ("Message from an Unknown Chinese Mother. Stories of Love and Loss", übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann). Dieses Buch musste ich lesen, wo doch die Eindrücke des Landes noch so präsent waren.
Xue Xinran, 1958 in Beijing geboren, ist eine bekannte Radiojournalistin. Viele Chinesen verfolgen regelmäßig ihre Sendung "Words on the Night Breeze". 1997 verließ sie China und lebt seither mit Mann und Sohn in England.
Auch Xues Kindheit war geprägt von Gefühlskälte, Lieblosigkeit und Distanz zu den Eltern, für die Vaterland und Revolution immer Vorrang hatten. Während der Kulturrevolution wurde die vierköpfige Familie in Internierungs- und Arbeitslagern eingesperrt. Xue und ihr kleiner Bruder wurden dort systematisch gedemütigt. Doch um das Leid ihrer beiden Kinder scherten sich die Eltern nie.
Oft zweifelte Xue, dass ihre Mutter wirklich ihre leibliche sei. War sie nicht vielmehr die "böse Stiefmutter"? Bis heute sehnt sich Xue Xinran nach körperlicher Umarmung, möchte das lebenslange Band der Liebe zwischen Mutter und Tochter spüren.
Im Jahr 1990 erfuhr Xue von einem Baby, dessen Mutter bei der Geburt verstorben war und dessen Vater sich aus Verzweiflung das Leben genommen hatte. Sie wünschte, es als Pflegekind zu sich nach Hause zu holen. Doch das wurde ihr nicht gestattet. Angesichts der Drohung, dass nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Mitarbeiter ihren Job verlieren würden, gab sie ihre Absicht auf, verfolgte aber den weiteren Weg des Kindes, das nun in eines der elenden Waisenhäuser gesteckt wurde. Um die dortigen Lebensbedingungen einigermaßen erträglich zu machen, spendete Xue, soviel sie konnte.
Als sie nach einem kurzen Auslandaufenthalt zurückkehrte, fand sie das Waisenhaus geschlossen, keine Dokumente, keine Akten mehr. Wo nichts geschrieben steht, kann nichts ermittelt oder gar strafrechtlich verfolgt werden ... Von "ihrem" Baby fehlte also jede Spur.
Diese tiefgreifenden, traumatisierenden Erlebnisse hat die Autorin jahrelang unterdrückt, doch haben sie ihren beruflichen Werdegang bestimmt. Seit Ende der Siebziger Jahre reiste sie durch China und besuchte besonders bäuerliche Gegenden, um mehr über das Leben der Frauen zu erfahren. Darüber wollte sie schreiben, im Radio berichten. Aber nur wenige waren bereit, mit ihr zu sprechen; viele waren dazu gar nicht in der Lage, hatten sie doch ihre persönliche Situation als völlig normal empfunden, noch nie kritisch darüber nachgedacht.
Xue Xinrans Buch "Wolkentöchter" ist ein Sprachrohr für die Betroffenen. Stellvertretend für viele andere schildern einige wenige Frauen ihre Erlebnisse und umreißen damit die Stellung der Frau in der chinesischen Gesellschaft. Traditionell, kulturell und politisch bedingt, sind Frauen seit vielen Jahrhunderten nichts wert, nur nützlich als Arbeitstiere und Gebärmaschinen. Bereits in der Ming-Dynastie teilte die Regierung einer Familie nur dann Land zu, wenn sie einen männlichen Stammhalter nachweisen konnte; für ein Mädchen dagegen gab es nicht einmal ein zusätzliches Korn Getreide. Solche Gepflogenheiten gelten bis heute.
Mit welchen Methoden ein derart unnützes Wesen gleich nach der Geburt wie Unrat entsorgt wird und wie Angehörige, Nachbarn, selbst die Mutter diesen Vorgang als ganz normal empfinden, ist unfasslich menschenverachtend. Xue Xinran verzweifelt an diesen Zuständen, kann sich nicht damit abfinden, dass der angeborene Mutterinstinkt so ausgelöscht werden konnte. Kann denn sein, was derart radikal gegen das verstößt, was die Natur vorgibt? Dann trifft sie wieder auf Zeitzeugen, die ihr verraten, dass diese Frauen ihre Babys genauso sehr wie andere Mütter liebten – sie dürften es nur niemals zeigen.
Auch ehemalige Mitarbeiter in Waisenhäusern berichten in diesem Buch, beispielsweise von weiblichen Babys, die, kokonähnlich in einen "Kerzensack" eingewickelt, alle nebeneinander auf einer Matte liegen, vor Hunger und Kälte schreien. Ihr Ende ist absehbar. "Kindertötungsanstalten" nennt die Autorin solche Einrichtungen.
Nach der Öffnung Chinas in den Neunziger Jahren mögen sich die Verhältnisse vielerorts verbessert haben; die Autorin macht diesbezüglich keine genauen Angaben. Jedenfalls wurden nun viele Kinder – vorwiegend Mädchen – zur Adoption ins Ausland freigegeben. Wenn alles gut ging, gaben ihnen dort liebevolle Mütter ein neues Zuhause, sie erfuhren Bildung und wuchsen ohne Not auf. Aus aller Welt erhält die Autorin Briefe von Adoptivmüttern, und immer wieder liest sie darin, wie die Kinder nach ihren Wurzeln fragen, nach den Gründen, warum sie weggegeben wurden, wie eine Sehnsucht sie schmerzt. Etliche solche Dokumente sind in dem Buch abgedruckt.
Trotz der tristen Thematik liest sich "Wolkentöchter" leicht und flüssig. Häufige Wiederholungen stören ein wenig. Weder sollte man die Messlatte hoher literarischer Kunst anlegen noch wissenschaftliche Präzision erwarten, denn solche Ambitionen hat die Autorin gar nicht. Vielmehr will sie die Menschen auf emotionale Weise wachrütteln, auf unhaltbare Zustände hinweisen. Sie schreibt aus tiefstem Herzen über unerfüllte Gefühle und Sehnsüchte. Die Schmerzenstränen der Mütter, die aus Not ihre Töchter töten oder weggeben, und der adoptierten Mädchen, die nie verstehen werden, warum ihre wahren Mütter sie nicht wollten, können einen reißenden Fluss füllen.
Der Roman hat keine Handlungsstruktur, sondern ist ein Mix aus Dokumentationen, Berichten anderer und eigenen Erlebnissen der Autorin. Der umfängliche Anhang liefert Briefe von Adoptionsmüttern, chinesische Adoptionsgesetze, Ausführungen über Suizid bei Frauen, über die achtzehn Wunder von Chengdu, Anmerkungen der Übersetzer und am Schluss einen Aufruf, Xue Xinrans Stiftung "The Mothers' Bridge of Love" zu unterstützen. Diese Organisation kümmert sich um chinesische Kinder, die von westlichen Pflegeeltern adoptiert wurden, insbesondere um Mädchen, die im Zuge der chinesischen Ein-Kind-Politik verstoßen wurden. Diesen Kindern, die, in aller Welt verstreut, ähnliche Sehnsüchte wie sie selbst verspüren, hat die Autorin das Buch "Wolkentöchter" gewidmet.
Inzwischen wird die Autorin zu internationalen Buchmessen geladen, hält Vorträge, macht Werbung für ihre Stiftung. Nach ihrem größten Traum gefragt, antwortet sie: "Eine Tochter zu sein."