Sardinien

Sardische Filmkunst aus hundert Jahren

Ein Überblick von Bücher Rezensionen


Außerhalb Italiens fand der italienische Film erst nach dem Zweiten Weltkrieg Beachtung. Die wirt­schaft­li­chen Schwie­rig­kei­ten des Landes, die Rück­ständig­keit der Lebens­ver­hält­nisse und die bittere Armut gro­ßer Teile der Be­völke­rung lenkte den Blick engagierter Filme­macher auf die Lage der einfachen Men­schen und die politisch-sozialen Ver­hält­nisse, denen sie unter­worfen waren. Die Land­bevölke­rung lebte oft noch in feu­da­len Strukturen vergangener Jahr­hunderte (als unge­bildete Klein­pächter, Tage­löhner, Hirten ...), in den In­dus­trie­städten herrschte Arbeits­losigkeit, und der Werte­umbruch von Faschis­mus zu einem de­mo­kra­ti­schen Rechts­staat steckte erst in den Anfängen.

Die Regisseure erkannten ihre Aufgabe darin, auf­klä­re­risch zu wirken, indem sie Dramen aus dem Alltag so gestal­teten, dass die politisch-soziale Be­dingt­heit der (meist tragischen) Gescheh­nisse erkennbar würde. Sie wollten die beklagens­werten Le­bens­be­din­gun­gen ungeschönt abbilden und den elemen­taren Bedürf­nissen der ›kleinen Leute‹ einen künst­le­risch-vi­su­el­len Ausdruck verleihen. So ent­wickel­ten sie die Stil­rich­tung, die als »Neorealismus« in­ter­na­tio­nal Auf­se­hen er­reg­te. Die tech­nischen und stilis­tischen Innova­tionen dieser Filme waren radikal: Man wendete sich ab von ›klassi­schen‹, idea­lisie­renden Stoffen und bildete tat­säch­liche Ereig­nisse aus dem Alltag unver­fälscht ab. Statt einen Erzähl­strang durch­zu­kon­struie­ren, beschränkte man sich auf die Anein­ander­reihung von Episoden. Man verließ die Studios, um an Original­schau­plätzen mit natür­lichem Licht zu drehen. Man drehte mit Laien­dar­stel­lern. Man scheute sich nicht zu im­pro­visie­ren.

Am bekann­testen wurden die ergrei­fenden sozial­kritischen Filme von Vittorio De SicaLadri di biciclette | Fahrraddiebe«, ), Roberto RosselliniStromboli«, ) und Luchino ViscontiLa terra trema | Die Erde bebt«, ).

Auch in Sardinien wuchs in jenen Jah­ren nach Faschis­mus und Krieg der Wunsch nach fil­mi­scher Un­ter­hal­tung ge­wal­tig. Dass sich aus­ge­rech­net auf die­ser rück­stän­di­gen, ar­men In­sel eine ei­gen­stän­di­ge Film­kul­tur ent­wi­ckel­te, ist auch da­rauf zu­rück­zu­füh­ren, dass man sich hier zurück­besann auf das reiche litera­rische Erbe Sardi­niens [› Sardische Literatur aus hundert Jahren]. Vor allen Din­gen das äußerst umfang­reiche erzähle­rische Werk von Grazia Deledda (1871 in Nuoro ge­bo­ren, 1936 in Rom gestorben, 1926 mit dem Lite­ratur­nobel­preis ge­ehrt) bot eine Fülle drama­tischer Stoffe über hohe Moral, Treue, Ehre und Pflicht, die sich für eine er­grei­fen­de und er­bau­li­che Verfil­mung eigneten, dem aktuellen Elend gro­ßes Pa­thos ent­ge­gen­set­zen und dem sardischen Stolz auf un­ver­fäng­li­che Weise schmeicheln konnten.

Der neorealismo-Stil blieb nicht ohne Einfluss, wurde aber um­inter­pretiert. Wie auf dem Festland drehte man, um größt­mögliche Au­then­ti­zi­tät zu schaffen, be­vor­zugt mit Dialekt spre­chen­den Laien und im Freien, bei­spiels­weise droben in der Berg­welt des Genn­ar­gen­tu. Anders als die be­wusst poli­tisch agie­ren­den (teils agitie­ren­den) Fil­me­ma­cher vom Festland stellten sardische Re­gis­seu­re je­doch vor­rangig die regio­nalen Kulturen und Tra­di­tio­nen ihrer Insel in den Mittel­punkt, wie um sie noch ein­mal zu doku­men­tieren, ehe sie auf dem Weg in neue Zei­ten unter­zu­gehen drohen. Sie dra­ma­ti­sier­ten rea­lis­ti­sche, oft tragische Hand­lungen etwa aus dem harten Leben der Hirten in der Bar­ba­gia; ihre Themen sind Vieh­dieb­stahl, das Bandi­tentum, Blut­rache, spä­ter Ent­füh­run­gen.

Meist sorgten atemberaubende Landschafts­bilder, Trachten, Szenen mit tradi­tionel­len Rund­tänzen und sar­di­sche Musik (gespielt auf organetto sardo und launeddas, oder der archa­isch anmu­tende viel­stim­mi­ge Männer­gesang des canto a tenore) für einen unver­wechsel­baren Zauber.

Das Bild Sardiniens, das auf diese Weise gezeich­net und ver­breitet wurde, fand durchaus nicht immer Anklang bei der Insel­bevöl­kerung. Zwar zeigte es sie als eigen­ständig, stolz und unab­hängig, als ehren­haft, mutig, zäh und genüg­sam, als ein Jahr­tausende altes Kultur­volk, das seine Tradi­tionen und Riten gepflegt, bewahrt und gegen viele Feinde vertei­digt hat. Aber sie erschei­nen gleich­zeitig auch als primitiv, rück­stän­dig, auf einer stein­zeitlich-anima­lischen Ent­wicklungs­stufe stehen­geblie­ben, als einzel­gänge­risch, ver­stockt, gewalt­tätig und krimi­nell, gefangen in einer patriar­chali­schen Lebens­weise, in der Frauen und Kin­der recht­los und un­ter­drückt leben müssen, und in all dem unbe­lehr­bar, feind­selig gegen­über allen Zi­vi­li­sie­rungs­ver­su­chen des italie­nischen Staates.

Je häufiger und aus welchen löblichen (ethno­grafi­schen, dokumen­tarischen) Gründen auch immer zip­fel­be­mütz­te Männer ein­ander in wilden Berg­regio­nen ver­folg­ten, bestah­len, entführ­ten, ermor­deten, um dann eisernes Schweigen zu bewahren (»omertà«), in je mehr Filmen man auf dem Dorf­platz im Kreis hüpfte und eigen­artige poly­phone Gesänge und Dudel­sack­musik hervor­brachte, desto mehr Sarden fühl­ten sich als ein Volk von Sonder­lingen bestaunt, anstatt als ent­wicklungs­fähige Region mit großem Po­ten­zi­al ernst­ge­nom­men zu werden. Moderne sardische Filme­macher setzen sich kreativ mit dem Dilemma aus­ein­an­der, wie heute noch sardische Iden­tität und Atmos­phäre erfasst werden kann, ohne rück­wärts­ge­wandt zu er­schei­nen oder alte Klischees zu pflegen. Ein beson­ders gut gelun­genes Beispiel, wie ein Film obsolete, aber gern gepflegte Stereo­typen klug, witzig und selbst­ironisch aufs Korn nimmt, ist »L’uomo che comprò la Luna« von Paolo Zucca (2018) [› Rezension].

Auf einer weiteren Seite bei Bücher Rezensionen stelle ich Ihnen leicht zugängliches Anschauungsmaterial vor: Die besten sardischen Filme aus hundert Jahren – 32 Filmkritiken.

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