Außerhalb Italiens fand der italienische Film erst nach dem Zweiten Weltkrieg Beachtung. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes, die Rückständigkeit der Lebensverhältnisse und die bittere Armut großer Teile der Bevölkerung lenkte den Blick engagierter Filmemacher auf die Lage der einfachen Menschen und die politisch-sozialen Verhältnisse, denen sie unterworfen waren. Die Landbevölkerung lebte oft noch in feudalen Strukturen vergangener Jahrhunderte (als ungebildete Kleinpächter, Tagelöhner, Hirten ...), in den Industriestädten herrschte Arbeitslosigkeit, und der Werteumbruch von Faschismus zu einem demokratischen Rechtsstaat steckte erst in den Anfängen.
Die Regisseure erkannten ihre Aufgabe darin, aufklärerisch zu wirken, indem sie Dramen aus dem Alltag so gestalteten, dass die politisch-soziale Bedingtheit der (meist tragischen) Geschehnisse erkennbar würde. Sie wollten die beklagenswerten Lebensbedingungen ungeschönt abbilden und den elementaren Bedürfnissen der ›kleinen Leute‹ einen künstlerisch-visuellen Ausdruck verleihen. So entwickelten sie die Stilrichtung, die als »Neorealismus« international Aufsehen erregte. Die technischen und stilistischen Innovationen dieser Filme waren radikal: Man wendete sich ab von ›klassischen‹, idealisierenden Stoffen und bildete tatsächliche Ereignisse aus dem Alltag unverfälscht ab. Statt einen Erzählstrang durchzukonstruieren, beschränkte man sich auf die Aneinanderreihung von Episoden. Man verließ die Studios, um an Originalschauplätzen mit natürlichem Licht zu drehen. Man drehte mit Laiendarstellern. Man scheute sich nicht zu improvisieren.
Am bekanntesten wurden die ergreifenden sozialkritischen Filme von Vittorio De Sica (»Ladri di biciclette | Fahrraddiebe«, 1947), Roberto Rossellini (»Stromboli«, 1949) und Luchino Visconti (»La terra trema | Die Erde bebt«, 1947).
Auch in Sardinien wuchs in jenen Jahren nach Faschismus und Krieg der Wunsch nach filmischer Unterhaltung gewaltig. Dass sich ausgerechnet auf dieser rückständigen, armen Insel eine eigenständige Filmkultur entwickelte, ist auch darauf zurückzuführen, dass man sich hier zurückbesann auf das reiche literarische Erbe Sardiniens [› Sardische Literatur aus hundert Jahren]. Vor allen Dingen das äußerst umfangreiche erzählerische Werk von Grazia Deledda (1871 in Nuoro geboren, 1936 in Rom gestorben, 1926 mit dem Literaturnobelpreis geehrt) bot eine Fülle dramatischer Stoffe über hohe Moral, Treue, Ehre und Pflicht, die sich für eine ergreifende und erbauliche Verfilmung eigneten, dem aktuellen Elend großes Pathos entgegensetzen und dem sardischen Stolz auf unverfängliche Weise schmeicheln konnten.
Der neorealismo-Stil blieb nicht ohne Einfluss, wurde aber uminterpretiert. Wie auf dem Festland drehte man, um größtmögliche Authentizität zu schaffen, bevorzugt mit Dialekt sprechenden Laien und im Freien, beispielsweise droben in der Bergwelt des Gennargentu. Anders als die bewusst politisch agierenden (teils agitierenden) Filmemacher vom Festland stellten sardische Regisseure jedoch vorrangig die regionalen Kulturen und Traditionen ihrer Insel in den Mittelpunkt, wie um sie noch einmal zu dokumentieren, ehe sie auf dem Weg in neue Zeiten unterzugehen drohen. Sie dramatisierten realistische, oft tragische Handlungen etwa aus dem harten Leben der Hirten in der Barbagia; ihre Themen sind Viehdiebstahl, das Banditentum, Blutrache, später Entführungen.
Meist sorgten atemberaubende Landschaftsbilder, Trachten, Szenen mit traditionellen Rundtänzen und sardische Musik (gespielt auf organetto sardo und launeddas, oder der archaisch anmutende vielstimmige Männergesang des canto a tenore) für einen unverwechselbaren Zauber.
Das Bild Sardiniens, das auf diese Weise gezeichnet und verbreitet wurde, fand durchaus nicht immer Anklang bei der Inselbevölkerung. Zwar zeigte es sie als eigenständig, stolz und unabhängig, als ehrenhaft, mutig, zäh und genügsam, als ein Jahrtausende altes Kulturvolk, das seine Traditionen und Riten gepflegt, bewahrt und gegen viele Feinde verteidigt hat. Aber sie erscheinen gleichzeitig auch als primitiv, rückständig, auf einer steinzeitlich-animalischen Entwicklungsstufe stehengeblieben, als einzelgängerisch, verstockt, gewalttätig und kriminell, gefangen in einer patriarchalischen Lebensweise, in der Frauen und Kinder rechtlos und unterdrückt leben müssen, und in all dem unbelehrbar, feindselig gegenüber allen Zivilisierungsversuchen des italienischen Staates.
Je häufiger und aus welchen löblichen (ethnografischen, dokumentarischen) Gründen auch immer zipfelbemützte Männer einander in wilden Bergregionen verfolgten, bestahlen, entführten, ermordeten, um dann eisernes Schweigen zu bewahren (»omertà«), in je mehr Filmen man auf dem Dorfplatz im Kreis hüpfte und eigenartige polyphone Gesänge und Dudelsackmusik hervorbrachte, desto mehr Sarden fühlten sich als ein Volk von Sonderlingen bestaunt, anstatt als entwicklungsfähige Region mit großem Potenzial ernstgenommen zu werden. Moderne sardische Filmemacher setzen sich kreativ mit dem Dilemma auseinander, wie heute noch sardische Identität und Atmosphäre erfasst werden kann, ohne rückwärtsgewandt zu erscheinen oder alte Klischees zu pflegen. Ein besonders gut gelungenes Beispiel, wie ein Film obsolete, aber gern gepflegte Stereotypen klug, witzig und selbstironisch aufs Korn nimmt, ist »L’uomo che comprò la Luna« von Paolo Zucca (2018) [› Rezension].
Auf einer weiteren Seite bei Bücher Rezensionen stelle ich Ihnen leicht zugängliches Anschauungsmaterial vor: Die besten sardischen Filme aus hundert Jahren – 32 Filmkritiken.