Sardinien

Sardische Literatur aus hundert Jahren

Ein Überblick von Bücher Rezensionen


Die große Insel Sardinien gehörte Jahrhunderte lang zur spanischen Krone, fiel dann 1714 an Öster­reich und 1720 an Savoyen. Das so entstan­dene neue unab­hängige König­reich Sardi­nien-Piemont taktierte im 19. Jahr­hundert erfolg­reich zwischen den europä­ischen Groß­mächten, so dass es zur füh­renden Kraft bei der Ver­trei­bung der Öster­reicher aus Nord­italien wurde. Im Zuge der dadurch möglich gewor­denen ita­li­e­ni­schen Eini­gung setzten sich unter der geschick­ten Diplo­matie des Camillo Benso Conte di Cavour die Pie­mon­te­ser Vor­stel­lun­gen durch, wie das ver­einigte Italien gestaltet werden sollte, und so wurde 1861 König Vittorio Ema­nuele II. von Sardi­nien zum ersten König von Italien gekrönt. Sardi­nien war danach ebenso wie Piemont-Savoyen ein Teil des König­reichs Italien.

Erst jetzt – gegen Ende des neun­zehn­ten Jahr­hunderts – konnte sich eine eigen­ständige sardische Li­te­ra­tur von über­regio­na­ler Bedeu­tung heraus­bilden. Ins Licht der Welt­öffent­lich­keit gelangte sie schlag­ar­tig, als Grazia Deledda im Jahr 1926 den Nobel­preis für Lite­ratur erhielt. Die 1871 in Nuoro ge­bo­re­ne Au­to­rin aus wohl­haben­der Familie hatte bereits seit ihrem fünf­zehnten Lebens­jahr natura­listische Er­zäh­lun­gen und Ge­dich­te ver­öffent­licht und schrieb später Romane über Frauen, deren Schick­sale in einer kon­ser­va­ti­ven, vor­ur­teils­be­hafte­ten Gesell­schaft gebrochen werden. Ihr wichtigstes Werk ist »Canne al vento | Schilf im Wind« (1913) [› Rezension]. Grazia Deledda verstarb 1936 in Rom, wo sie seit 1900 gelebt hatte. Viele ihrer drama­tischen Roman­hand­lungen wurden schon zu ihren Lebzeiten und danach in Sardi­nien verfilmt und beför­derten die Heraus­bildung einer eigen­ständigen Film­kultur auf der Insel [› Sardische Filmkunst aus hundert Jahren].

Eine weniger naturalistische als traditionell bürgerliche Erzähl­haltung bestimmt »Il giorno del giudizio«, den einzi­gen Roman des Juristen Salvatore Satta (*1902, Nuoro, †1975), der jedoch wegen seiner scho­nungs­losen Dar­stel­lung sämt­licher gesell­schaft­licher Schich­ten und Gruppen seiner Heimat­stadt Nuoro erst 1977 posthum ver­öffent­licht wurde.

Der hochgebildete Schulmann, Schriftsteller und Doku­mentar­filmer Giuseppe Dessì (*1909, Villacidro, †1977) stellt in seinen zahl­reichen Erzäh­lungen, Romanen (»Paese d’Ombre«) und Theater­stücken (»Ele­o­no­ra d’Arborea«), die vor allem in den 1950er und 1960er Jahren ent­stan­den und große An­er­ken­nung fanden, die Ge­fähr­dung der uralten, in sich ruhenden Kultur seiner sardischen Heimat durch die schäd­li­chen Einflüsse vom Fest­land dar, einer Welt der hohlen Werte und der Rück­sichts­losig­keit.

Dessì verfestigt damit die Haltung, die die sardi­sche Insel­bevöl­kerung aus ihren schlech­ten Erfah­run­gen über Jahr­tau­sende hinweg gewonnen, tief ver­inner­licht und in ein Sprich­wort ge­gossen hatte: »Chi venit da ‘e su mare furat.« (Wer über das Meer kommt, ist ein Dieb.) In der Tat hatten alle Inva­soren der kargen, stei­nigen, gebir­gigen Insel (Phöni­zier, Römer, Byzan­tiner, Araber, Pisaner, Schwa­ben, Spanier, Öster­reicher, Savoyer und der italie­nische Faschis­mus) nichts mit ihr im Sinn, als ihre Schätze aus­zu­beuten, wobei für die groben Arbei­ten die Ein­heimi­schen mehr oder weniger brutal gepresst wurden. Deswegen sind die Sarden nie Fischer und See­fahrer, sondern Hirten geworden, die sich im Landes­inne­ren iso­lier­ten, so un­wirt­lich es uns auch scheinen mag. Weit­gehend abge­schottet vom Rest der Welt, lebte die Be­völke­rung großer Teile Sar­di­ni­ens bis weit nach dem Zweiten Welt­krieg unter un­fass­lich harten Lebens­bedin­gun­gen in einer archai­schen Kultur.

Dies gilt nicht nur für die Wander­hirten im unweg­samen Inland, sondern auch für die bedeu­tende Berg­bau­indus­trie im Süd­westen. Sie war für den Duce Benito Musso­lini ein wichtiges Instru­ment, um seine impe­rialen Träume zu reali­sieren und die Sank­tionen zu umgehen, die der Völker­bund nach Musso­linis Erobe­rung Abes­siniens (1935) verhängt hatte. Als Mittel des Wi­der­stands gegen das faschis­tische Regime ent­stand auch in Sar­di­ni­en bereits in den Drei­ßi­ger­jahren eine Stil­rich­tung, die nach dem Krieg in ganz Italien als »Neo­rea­lis­mo« bezeich­net wur­de und auch inter­national Einfluss und An­er­ken­nung fand. Es sind inten­sive und au­then­ti­sche Do­ku­men­te der realen Verhäl­tnisse, die weltweit Beach­tung fanden und eine neue Film­sprache anregten [› Sardische Filmkunst aus hundert Jahren].

Unmittelbar nach dem Krieg hatte die unge­schönte künst­le­ri­sche Be­schrei­bung der Zu­stän­de in Lite­ratur und Film eine wichtige Funktion, denn sie machte die Probleme weithin erst be­kannt. Als be­deutend­ste Werke dieser Inten­tion können zwei auto­bio­grafi­sche Romane gelten: »Diario di una ma­es­tri­na« (1957) von Maria Giacobbe (*1928, Nuoro, †2024) [› Rezension] und »Padre Padrone« (1975) von Gavino Ledda (*1938, Siligo) [› Rezension].

Eine wichtige Ergänzung brachten in der Nach­kriegs­zeit bis in die Achtziger Jahre die wis­sen­schaft­li­chen Unter­suchun­gen von Lin­guisten und vor allem Anthro­polo­gen wie Giulio Angioni (*1939, Gua­si­la, †2017) [› Rezension]. Sie er­forsch­ten erstmals empirisch-systema­tisch die sprach­lichen Be­son­der­heiten, die Ge­setz­mä­ßig­kei­ten und Varianzen der alten Werte­systeme, Tradi­tionen, Sitten, Tänze, Gesänge und Musiken, machten ihre Er­kennt­nisse der interes­sierten Öffent­lichkeit zugänglich (auch in Doku­mentar­filmen) und ver­wer­teten sie in eigenen litera­rischen (bzw. filmi­schen) Pro­duk­tionen.

Seit dem Kriegsende gab es systematische Bemühungen, die Ver­hält­nisse auf der Insel zu ver­bes­sern, wie etwa den politischen Piano di Ri­na­sci­ta (1962), der jedoch weit­gehend scheiterte. Mehr Erfolg zeitigten wirt­schaft­li­che Ak­ti­vi­tä­ten, um Tou­ris­mus auf die Insel zu holen; sie begannen ab 1964 mit Karim Aga Khans Costa-Sme­ral­da-Projekt, das zu­nächst einmal den Jet Set anlockte.

Der wachsende Zustrom der Touristenmassen brachte nicht nur Geld, sondern hielt auch das Selbst­be­wusst­sein der Sarden und das Inter­esse ihrer Künstler an Kultur, Geschichte, Tradi­tionen, Menta­lität, ge­sell­schaft­li­chen Themen und der Spra­che ihrer Insel hoch. Sie setzten engagiert die re­a­lis­ti­schen Tra­di­tio­nen fort, die bereits zu Anfang und in der Mitte des Jahr­hun­derts für Auf­sehen gesorgt hatten.

Der erfolgreichste Roman von Salvatore Mannuzzu (*1930, Pitigliano, †2019), Jurist und Parla­menta­rier, ist »Pro­ce­du­ra« (1988, 2015 bei Einaudi neu aufgelegt Salvatore Mannuzzu: »Procedura« bei Amazon). Der Kriminal­roman erhielt nicht nur den »Premio Viareggio«, sondern steht auch am An­fang einer litera­rischen Welle von Kriminal­romanen sardischer Aus­prägung. Im Jahr 2000 wurde »Pro­ce­du­ra« von Antonello Grimaldi ver­filmt (»Un delitto impossibile«, [› Rezension]).

Sergio Atzeni (*1952, Carloforte, †1995) begann als Journalist und Poli­tiker, ehe er als Schrift­steller und Über­setzer arbeitete. Die nach­haltigste Wirkung erzeugte seine Erzählung »Bellas mari­posas« (»Schöne Schmetterlinge«, 1996), deren zarter magischer Realis­mus auch in der groß­artigen Verfil­mung von Sal­va­to­re Mereu (2012) bezaubert [› Rezension].

Atzeni gehört mit Mannuzzu und Angioni zu den Weg­berei­tern der »Nuova letteratura sarda«, die seit etwa 1980 nationales und inter­natio­nales Aufsehen erregte. Der Begriff be­zeich­net weniger eine ge­mein­sa­me ideolo­gische Aus­richtung oder sonstige absichtlich heraus­gearbei­tete Pro­gram­ma­tik als vielmehr die eher zufällig gehäuft auf­ge­trete­ne inhalt­lich-thema­tisch-sprach­liche Fokus­sierung auf Sardi­nien, seine Men­schen und Tradi­tionen in auffällig gut ge­lunge­nen Roma­nen, Dramen, Lyrik und im Film. Der sprach­li­che Stil, die Themen, Schau­plätze und Prota­gonisten illust­rieren oder reflek­tieren die Tradi­tionen der Re­gi­on und kon­fron­tieren sie mit der modernen Welt. Dass über einen gewissen Zeit­raum eine Vielzahl über­zeu­gen­der Werke ent­standen und auf so große Reso­nanz stießen, war eine über­raschen­de glück­liche Fügung. Den Künstlern, so wurde aner­kannt, sei es gelungen, eine starke eigen­ständige, gewisser­maßen »post­ko­lo­ni­a­le« sardische Lite­ratur (bzw. Film­kultur) zu etablieren.

Die wichtigsten Autoren der »Nuova letteratura sarda« sind Salvatore Niffoi (*1950, Orani), der eine be­son­ders intensiv mit der sardischen Sprache verwobene Prosa pflegt [› Rezension], der Augen­arzt Giorgio Todde (1951-2020, Cagliari), der eine Reihe erfolg­reicher Kriminal­romane um den Hobby-Ermittler Efisio Marini, einen (histori­schen) Leichen­präpa­rator, als Prota­gonisten verfasst hat [› Rezension], Milena Agus (*1959, Ge­nua), Marcello Fois (*1960, Nuoro), als vielleicht produk­tivsten und viel­sei­tigsten dieser Autoren, und Fran­ces­co Abate (*1964, Cagliari) [› Rezension] – und die Reihe könnte leicht noch um ein Dutzend Namen er­wei­tert werden.

Die größte internationale Aufmerksamkeit konnte wohl Michela Murgia (*1972, Cabras, †2023) mit ihrem Best­sel­ler »Acca­badora« (2009) verbuchen [› Rezension]. Weitere viel­ver­spre­chende Talente der neuesten Zeit sind Savina Dolores Massa (*1957, Oristano) [› Rezension], Alessandro de Roma (*1970, Carbonia) [› Rezension] und der mit dem Premio Italo Calvino 2015 geehrte Cristian Mannu (*1977, Cagliari) [› Rezension].

Die erfolgreiche »Neue sardische Literatur« stieß aller­dings auch auf Kritik. Ihr Blick sei rück­wärts­gewandt, ihre Themen stabili­sierten Klischees eines rück­ständi­gen, ja archai­schen Sardiniens, in dem Irra­tiona­lität, Gesetz­losigkeit und eine eigen­willige Art von Magie- und Schick­sals­glaube den zivili­satori­schen Fort­schritt be­hin­der­ten. Indem die Autoren dies­bezüg­liche Leser­erwar­tungen – vor allem außer­halb Sardiniens – auf­bauen und be­friedi­gen, arbei­teten sie, wenn auch un­ge­wollt, Sardiniens Moder­nisie­rung entgegen. Cristian Mannus Roman »Maria di Ísili« (2016) setzt hier ein deut­liches Zeichen für eine Erneue­rung, die, so der Autor, von der jüngeren Generation getragen werden soll.

Sergio Atzeni formulierte einmal, er träume von »un editore sardo che un giorno riuscisse final­mente a sbar­ca­re in conti­nente e a vendere i propri libri«. Der Traum ging gleich zwei Mal in Erfüllung: Seit 1985 ver­legt »Ilisso« in Nuoro Lite­ratur und wunder­schöne Bild- und Kunst­bände, und 1992 wurde eben­falls in Nuoro der Verlag »Il Maestrale« ge­grün­det, der sich auf sardische Litera­tur aller Epochen und Genres kon­zen­triert. Weit über Sergio Atzenis Traum hinaus verbreiten aber heute alle größeren Verlage Italiens und im Ausland, was Sardi­niens Lite­ratur zu bieten hat.

Go to Top