Rezension zu »Anatomie einer Affäre« von Anne Enright

Anatomie einer Affäre

von


Belletristik · DVA · · Gebunden · 320 S. · ISBN 9783421045409
Sprache: de · Herkunft: gb

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Von der Reifung eines Hascherls

Rezension vom 05.11.2012 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

"Es war aber nicht irgendwer. ... Das warst du." Die Sätze richten sich an Gina, die Ich-Erzählerin, und sie weisen ihr die Schuld daran zu, dass sich Evies Eltern Aileen und Seán getrennt haben. Jetzt lebt die 12-jährige Evie mit ihrem Vater Seán bei Gina.

Seit ihrer Geburt hat sich alles um Evie gedreht. Mutter Aileen hat die unnormale Entwicklung ihres Kindes voller Sorgen beobachtet, hat Ärzte konsultiert. Ihre Diagnose: Evie leidet an Epilepsie. Die verordneten Medikamente verhindern die Anfälle, aber das Mädchen verändert sich, hat Wutanfälle, halluziniert.

Bald setzt Aileen die Arzneien ab und versucht andere Wege zu beschreiten: Evie soll spezielle Diäten ohne Kohlehydrate einhalten. Aber die Vierjährige hintergeht die Verbote, klaut und versteckt Nahrungsmittel, um sie dann heimlich im Übermaß in sich hineinzustopfen. In dieser Phase - Aileen steckt in einem Fürsorgerausch - lernt ihr Mann Seán (45) die attraktive Gina (24) kennen. Geistesabwesend steht er da im Garten der Familie von Ginas Schwester, die zur Grillparty eingeladen hatte. Er denke an nichts Besonderes, entgegnet er Gina, als sie ihn darauf anspricht - wie Männer häufig behaupten, wenn sie mit sich selbst ihre wahren Probleme wälzen.

Fünf Jahre später, 2007, lädt Aileen Gina zur Neujahrsparty ein. Da küssen sich Gina und Seán zum ersten Mal. Evie, jetzt 9, beobachtet die Szene - und johlt vor Lachen. Heute glaubt Gina, darin habe Gehässigkeit, ja Schadenfreude gesteckt. Damals war sie Feuer und Flamme, verliebt und scharf auf den fast doppelt so alten Mann. Sie trafen sich heimlich in Hotels, bis sie sich schließlich von ihrem Mann Conor scheiden ließ.

Wo steht Gina heute? Sie ist im Alltag angekommen. "Ihr Leben ist ein einziges langes Gehader um Absprachen", denn alles dreht sich nur um Evie, für die stets jemand da sein muss und die Seán mehr als jede und alles andere liebt. Ist Gina eifersüchtig auf das Mädchen? Bitter muss sie erkennen, dass sie als Geliebte beliebig, ja auswechselbar ist. "Seán wird immer die liebende Evie am Hals haben"; will sie Seán haben, muss sie auch Evie nehmen.

"Anatomie einer Affäre" (The Forgotten Waltz, übersetzt von Petra Kindler und Hans-Christian Oeser) ist ein psychologisch-analytischer Roman. Sein deutscher Titel leitet den Leser ein bisschen fehl, denn es ist gar nicht die Liebesbeziehung, die hier skelettartig seziert wird. Gegenstände von Ginas Betrachtung und Reflexion sind vielmehr ihre eigene Innenansicht, ihr vergangenes Leben, das sie messerscharf zerschneidet, sowie ihr Pendant Evie, die ihr den wahren Zugang zu Seán verwehrt und sie durch ihr Verhalten zu emotionalen Ausbrüchen provoziert.

Wir lesen also Stück für Stück von der Spurensuche der erfolgreichen, sprachbegabten, lebenslustigen IT-Spezialistin Gina. Wahrscheinlich wäre sie ein oberflächliches Hascherl geblieben und nie gereift, wenn sie Seán und insbesondere Evie nicht begegnet wäre. Erst jetzt, nachdem sie von Ruinen umgeben ist - enttäuschte Hoffnungen, ihre Ehe mit Conor, Seáns Ehe -, erkennt sie den Wert ihrer eigenen Familie, trauert der verstorbenen Mutter nach, um die sie sich viel zu wenig gekümmert hat. Sie hat einfach nicht wahrhaben wollen, was ihre Schwester Fiona immer schon zu bedenken gab: Seán sorge sich um seine Frau; er habe sie nie verlassen. Warum hat sie nicht schon viel früher durchschaut, welche Bedeutung Evie für Seán hat, zum Beispiel als er sagte: "Bitte halte dich von meiner Tochter fern."? Seán hält sich nicht zurück; wenn es darauf ankommt, gibt er Gina sogar die Schuld am Scheitern seiner Ehe. Seine Liebe zu ihr ist absolut nicht deckungsgleich mit ihrer zu ihm: "Falls die Liebe eine Geschichte ist, ... dann hatte ich den Plot nicht richtig hingekriegt."

Anne Enright erhielt für ihren Roman The Gathering (Das Familientreffen) den Man Booker Prize; sie ist eine hochgelobte Literatin. Dadurch war ich voreingenommen, hatte hohe Erwartungen - doch die wurden leider nicht alle eingelöst. Gestört hat mich etwa, dass die Autorin einfache Informationen bedeutungsschwanger zurückhält - den Namen der Ich-Erzählerin bis Seite 59, Evies Krankheitsdiagnose bis Seite 268. Soll das ein stilistisches Mittel sein, um Spannung zu erzeugen oder um den Leser die Erkrankung als besonders belastend erleben zu lassen? Da wohl jeder schon frühzeitig ahnt, dass das Kind eine Form von Epilepsie hat, scheint mir die Geheimniskrämerei etwas albern.

Vor allem aber: Fremdgehen, neue Beziehungen anfangen aus Langeweile, wegen unerfülltem Sex oder weil es sich halt so ergibt, dazu allerlei Probleme mit einem behinderten Kind - das sind doch reichlich abgedroschene Alltagsklischees. Man schlägt das Buch zu, und was bleibt in Erinnerung? Das unzweifelhafte literarische Geschick der Autorin allein ist mir zu wenig ...


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