Rezension zu »Winklers Traum vom Wasser« von Anthony Doerr

Winklers Traum vom Wasser

von


Belletristik · C.H. Beck · · Gebunden · 488 S. · ISBN 9783406691614
Sprache: de · Herkunft: us

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Die lange Flucht vor der Verantwortung

Rezension vom 22.01.2017 · 6 x als hilfreich bewertet mit 1 Kommentaren

Viele Jahre vergehen, und viele Seiten sind zu studieren, ehe David Winkler es schafft, an den Ort seiner Kindheit zurück­zu­keh­ren. Erst als fast Sechzig­jähriger stellt sich der passio­nierte Hydro­loge endlich der Wahr­heit.

Wasser ist die große Passion des kauzigen, einsamen Prota­gonis­ten dieses Romans, und so beschreibt der Autor das Element sehr aus­führ­lich in all seinen Aggre­gats­zu­stän­den und Vor­kom­mens­weisen, auch im mensch­lichen Körper. Doch es ist »eine unbe­rechen­bare, launische Substanz: nichts Festes, nichts Per­ma­nen­tes und nichts, was so war, wie es schien«. Erwecken die bezau­bernden sechs­strah­ligen Kristall­sterne der Schnee­flocken oder gefrorener Eis­blumen am Fenster in ihrer unend­lichen Vielfalt nicht den Eindruck feinster, aber fester Körper­chen? »In Wirk­lich­keit, auf einem extrem kleinen Niveau, kleiner als ein paar Nano­meter, vibriert der Kristall wie verrückt, und all die Mole­küle, aus denen er sich zu­sammen­setzt, summen unsicht­bar vor sich hin und verzeh­ren sich letzt­lich von selbst«, erläu­tert Winkler einen Passus aus seiner Doktor­arbeit.

Dass ausgerechnet in dem Stoff, der Winkler so fasziniert und den er geradezu liebt, zwei Menschen um­kommen müssen, ist eine üble Ironie des Schicksals. Ebenso wenig Glück bringt ihm eine zweite be­mer­kens­werte Eigen­schaft, eine über­natür­liche Gabe, die der kluge Anthony Doerr so sparsam einsetzt, dass sein Buch genug Abstand vom Mystery-Genre wahrt. Sie ist jedoch der zentrale Schlüssel für den Plot und für die Wandlung des Prota­gonisten.

Schon als Kind ist David Winkler, Anfang der Vierzigerjahre in Anchorage, Alaska, geboren, ein ver­träumter Einzel­gänger und Bücher­wurm. Neben ganz normal verrück­ten Sachen, wie sie jedes Gehirn pro­duziert (»Eis­zapfen, die aus der Zimmer­decke wuchsen ...«), träumt er anderes, das ihn beun­ruhigt, weil es wieder­kehrt, ihn verfolgt, Nacht für Nacht, manch­mal am Tag, bis es endlich ver­blasst – Déjà-vu-Erleb­nisse, Erinne­rungen, Alltags­szenen. Bei wieder anderen Träumen aber ist er sicher: »Es war – Wissen« über schreck­liche Ereig­nisse, tödliche Unfälle etwa, die erst noch geschehen würden. Eine Hell­sichtig­keit, die Winkler als schwere Belas­tung empfindet.

Nur einmal erweist ihm seine Gabe einen freund­lichen Dienst. Als er zwei­und­dreißig Jahre alt ist, träumt er von der Frau, die er heiraten wird. Er wird ihr in einem Super­markt begeg­nen, sie wird eine Zeit­schrift fallen lassen, und genau so lernt er die Bank­ange­stellte Sandy kennen und lieben. Die beiden ziehen nach Cleve­land, Ohio, wo bald ihre gemein­same Tochter Grace geboren wird.

Aber das Glück ist flüchtig wie ein Eiskristall. Bei einem Unwetter über­schwemmt der Ohio River die Stadt und auch das Haus der jungen Familie. Wie Winkler es mehrere Nächte hinter­einan­der in einem immer gleichen Alptraum vorher­gesehen hatte, gelingt es ihm, seine fünf Monate alte Tochter aus dem Haus zu schaffen, doch in den reißen­den Fluten kann er sie nicht halten und muss sie los­lassen. »Die Zukunft wartete darauf, dass er seine Verab­redung einhielt.«

Winkler aber glaubt, dem Schicksal, dessen tödlichen Ausgang er kannte, eine andere Wendung geben zu können, wenn er, der Verant­wort­liche, sich aus der prekären Situation heraus­stiehlt. Des­wegen läuft er davon, lässt Frau und Kind im Stich. Erst viele Jahre später kann er sich diese persön­liche Schuld, sein Versagen aus Angst, einge­stehen.

Winklers Flucht trägt ihn weiter nach Süden. Er strandet auf einer Karibik-Insel, wo er ein einfaches Leben als Gärtner führt. Fünfund­zwanzig Jahre lang leistet er hier eine Art Abbitte, denn seine Gedanken kreisen immer wieder um seine Tochter Grace, die vor seinen Augen in den Fluten versank.

Auch seine Traumvisionen lassen ihm keinen Frieden. Erneut suchen ihn schreck­liche Bilder heim, wie die Tochter guter Freunde mit ihrem Boot kentert und ertrinkt. Dieses Mal aber ist er ent­schlossen, die Realität nicht mehr von seinen Alp­träumen bestim­men zu lassen, sondern beherzt in das Geschehen einzu­greifen.

Die späte Einsicht des gealterten Mannes, dass man den Lauf des Lebens wenigs­tens in gewissem Rahmen selber gestalten und manchen Schicksals­schlag abwenden kann, macht ihn jetzt frei und stark genug, sich der Vergan­genheit zu stellen. Die Suche nach seiner Frau Sandy und seiner Tochter Grace gerät zu einer Odys­see, die ihn durch mehrere Staaten Amerikas schließlich zurück an den Ursprungs­ort Anchorage führt und auf den letzten zwei­hundert Seiten zur Gedulds­probe für den gespann­ten Leser wird.

»About Grace« Anthony Doerr: »About Grace« bei Amazon ist der bereits 2004 erschienene Debüt­roman des US-Autors Anthony Doerr. Sein litera­risches Talent, seine Fähig­keit, sich bis in die kleinsten Details zu versenken, faszi­niert bereits in seinem Erst­lings­werk, blieb aber weit­gehend unbe­achtet. Erst mit seinem zweiten Roman, »Alles Licht, das wir nicht sehen« [› Rezension], der den Pulitzer-Preis erhielt, fand der Autor weltweit Aner­ken­nung bei Kriti­kern und Lesern. Verständ­lich, dass der C.H. Beck-Verlag seiner deutsch­sprachigen Erst­ausgabe von 2005 (Über­setzung: Judith Schwaab) jetzt eine »Sonder­ausgabe« nach­schiebt und auf größere Aufmerk­samkeit auf dem Markt hofft.

Was aber ist während der Unwetter­katastrophe in Cleve­land tatsäch­lich mit Sandy und Grace geschehen? Selbst über seiten­lange, akade­misch präzise Be­schrei­bungen hin hält diese Frage die Span­nung aufrecht, lässt den Leser auf die erlösende Erklärung hoffen. Sie kommt schließ­lich, doch man muss sie sich mit viel Geduld verdienen.


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Kommentare

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Zu »Winklers Traum vom Wasser« von Anthony Doerr wurden 1 Kommentare verfasst:

Christian schrieb am 27.10.2019:

Wer schon zu Depressionen neigt sollte dieses Buch nicht lesen. Nirgendwo ensteht eine Freude oder Hoffnung.. In der Hauptsache nur Chaos. Leider ist nicht wirklich von einem liebenden Gott die Rede den Jesus verkündet hat. Absolut nicht aufbauend.

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