Die letzten Meter bis zum Friedhof
von Antti Tuomainen
Jaako, 37, hat nicht mehr lange zu leben. Jemand hat ihn peu à peu vergiftet. Seine Frau betrügt ihn mit dem Angestellten. Der gemeinsamen Pilzzuchtfirma droht üble Konkurrenz. Was tun in der verbleibenden Zeit bis zum Exitus? Jaako findet schräge Antworten.
Lust und Leid der Pilzzucht
Ein Hoch dem Kieferduftrittling! Der gesunde, nährstoffreiche Pilz wächst und gedeiht einfach prächtig in den finnischen Wäldern. In den japanischen allerdings nicht so gut. Dabei ist der Japaner gern bereit, für dieses Gewächs (das er Matsutake nennt) sein letztes Hemd hinzugeben – konkret: gut und gerne tausend Euro fürs Kilo.
Was liegt also näher für einen ambitionierten, weitgehend unabhängigen jungen Finnen wie Jaakko Mikael Kaunismaa, 30, als Kieferduftrittlinge zu züchten, zu den fernen Feinschmeckern zu exportieren und reich zu werden? Mit seiner Frau Taina packt er die Gelegenheit beim Schopfe, zieht von Helsinki fort nach Hamina und gründet da ein Start-up. Sieben Jahren später brummt der Laden, und er sollte sich einen glücklichen Mann nennen dürfen.
Aber Jaakko ist nicht der einzige ambitionierte, weitgehend unabhängige junge Finne. Da wären zum Beispiel Asko (hat schon dies und das gemacht), Juhana (einst bester Werfer beim Päsaball, dem finnischen Baseball) und Juhani (dem der ewige Heringsmief seiner Mutter derart zuwider war, dass er sie um die Ecke brachte). Auch diese drei sind, gelockt von prallen japanischen Geldsäcken, in den boomenden Pilzhandel eingestiegen, allerdings mit robusteren Methoden als Jaakko und Taina.
Die fiese Konkurrenz ist freilich nicht Jaakkos einziges Problem. Weil ihm schon seit einer Weile eine Reihe körperlicher Beschwerden zu schaffen macht, erbat er sich vom Arzt ein paar Pillen – und wurde mit der niederschmetternden Diagnose konfrontiert, dass er nicht mehr lange zu leben habe. Bereits seit geraumer Zeit muss ihm jemand heimtückisch Giftstoffe verabreicht haben.
Verständlicherweise ist Jaakko auf die vorzeitige Besiegelung seines Schicksals ewiger Bedeutungslosigkeit ganz und gar nicht vorbereitet – »der Tod kommt ja nur einmal im Leben«. Als ordentlicher Mensch weiß er sich aber mit einer Art »To-do-Listen« zu organisieren. Klar: Wem er die regelmäßigen Giftgaben zu verdanken hat, das muss er noch herausfinden, bevor er ins Gras beißt. Und auch die Firma will er noch zukunftssicher aufstellen. So fährt Jaakko mit seiner tödlichen Diagnose nach Hause, um die nächsten Schritte, »die letzten Meter bis zum Friedhof«, mit seiner liebsten Taina zu erörtern, wie es sich zwischen ihnen bewährt hat.
Doch statt Trost, Rat und Beistand in der Not erwartet den Todgeweihten der nächste Schock. Denn er findet Taina mit dem einzigen Mitarbeiter der gemeinsamen Firma bei eindeutigen zweisamen Aktivitäten im trauten Heim beschäftigt. Zwischen Enttäuschung und Wut hin und her geschleudert, laufen Jaakkos Emotionen ins Leere – wie auch jegliche spontan konzipierte To-do-Liste. Wie ist zu verfahren mit der untreuen Gefährtin samt Lover, die ja ganz offensichtlich eine gemeinsame Zukunft ohne ihn ins Auge gefasst haben? Soll er zur Eisenstange an der Wand greifen? Oder die beiden bei der Polizei anzeigen? Beide Ideen überzeugen nicht recht. Und auch die Absicht, die Pilzzucht auf sicheren Boden zu stellen, verliert ihren Sinn, wenn nach dem Ableben des Tüchtigen die Verräterin nebst ihrem Stecher und am Ende womöglich die dubiosen Konkurrenten davon profitieren.
Jaakko und seinem Dilemma nicht unähnlich, ließ Antti Tuomainens Krimi »Die letzten Meter bis zum Friedhof« auch mich ein wenig ratlos. (Wenigstens musste ich im Gegensatz zu dem Armen keine deadline fürchten.) Natürlich fragt man sich ebenso gespannt wie der Pilzhändler, wer ihm an den Pelz will, und der Autor spielt hübsch mit unseren Erwartungen und gängigen Klischees. Dennoch ist der Plot recht einfach und überschaubar gestrickt. Amüsant, aber nicht umwerfend originell sind seine Charaktere gezeichnet. Die drei hirnlosen Kraftprotze von der Pilzzüchter-Konkurrenz (»Typ Breit-wie-ein-Scheunentor«) haben erwartungsgemäß keine Chance gegen unseren adipösen Antihelden Jaakko mit seiner »Schwäche für fette Krapfen«. So lusch er ansonsten dahergetrabt kommt, wächst er in zwei rasanten Verfolgungsjagden über sich hinaus und erweist sich als eiskalt abgebrühter Triumphator.
Als Pluspunkt des Romans schlagen die einfallsreichen Formulierungen und die vorwiegend skurrile Atmosphäre zu Buche. Antti Tuomainens nüchterner bis knochentrockener Stil passt sehr gut zum unsentimentalen Charakter seines Ich-Erzählers, der trotz Endzeitstimmung seinen pragmatischen Humor bewahrt (»Ich muss nur am Leben bleiben. Bis ich sterbe.«). Wer einen Sinn dafür hat, wird an Räsonnements wie den folgenden seine Freude haben: »Der Wind scheint vergessen zu haben, dass seine Aufgabe darin besteht zu wehen.« – »Menschen kommen, Menschen gehen. Fast jeder, der gegangen ist, war der Meinung, dass es zur falschen Zeit geschehe.« – »Die Straße ist nicht geschwätzig, erzählt nicht weitschweifig, spinnt nicht rum. Sie bewegt sich auch nicht in falsche Richtungen, macht keine sinnlosen, fehlerhaften Gedankensprünge … Sie irrt nie. Ist zuverlässig, chronologisch, logisch. Folgerichtig, von Punkt A nach B. Egal, wie schmerzlich die Reise sein mag.« Dass das alles auch im Deutschen funktioniert, spricht für die Übersetzer, Niina und Jan Costin Wagner, selbst Autor von in Finnland angesiedelten Krimis [› Rezension].
Nach meinem Empfinden ist Antti Tuomainens Roman »Die letzten Meter bis zum Friedhof« gute, leicht verdauliche Unterhaltung, aber nicht mehr. Manche Kritiker schließen aus der Grundsituation der Todesnähe, die dem Moribunden ein Memento mori vor Augen führt, auf einen philosophischen Überbau. Das halte ich für überinterpretiert. Nicht jeder makabre Gag muss mit einer existentiellen Erkenntnis verknüpft sein, nicht jede nachdenkliche Sentenz ist gleich eine Exkursion ins Transzendentale.