Stella o croce
von Gian Mauro Costa
Eine nette junge Polizistin in Palermo hört von dem unaufgeklärten Mord an einer Perückenmacherin und geht der Sache in ihrer Freizeit nach. Mit scharfem Verstand, Risikobereitschaft, hilfreichen Freunden und guten Beziehungen schafft sie, was der Mordkommission nicht gelang.
Ein Mordfall für den Feierabend
Angela Mazzola kennt das Leben auf mehreren Ebenen. Die Dreißigjährige stammt aus Borgo Nuovo, einem hässlichen Betonviertel am Rande von Palermo, wo es schwierig ist, überhaupt Arbeit zu finden. Mit Fleiß und Ehrgeiz hat sie sich durch ihre Schullaufbahn gebissen, im Internat bei den suore Abitur gemacht, gejobbt und einen Sommelier-Kurs absolviert (der brachte ihr zwar keinen Job, aber Geschmack und eine gute Freundin – und uns Lesern manchen Hinweis auf gute sizilianische Tropfen), sich dann mutig bei der Polizei beworben – und wurde angenommen.
Täglich schiebt sie gewissenhaft Dienst bei der Sezione Antirapina in Palermo, wo sie es mit Apothekeneinbrüchen, Zigarettenschmuggel und Kleinkriminellen zu tun hat oder auch mal gar nichts Besonderes erlebt, wenn sie durch die Altstadt patroulliert.
Mit Recht ist sie stolz auf das Erreichte und genießt, wovon viele in Sizilien nur träumen können: eine sichere Anstellung, ein regelmäßiges Salär, eine kleine Wohnung im Acquasanta-Viertel mit Terrasse und Ausblick auf Marina und Meer. Da sitzt sie gern, betrachtet den Sonnenuntergang und lässt sich von ihrem Butler Gianpì noch etwas Wein nachgießen … nein, Letzteres gehört zu den Wunschträumen, die sie selber nicht ganz ernst nimmt.
Einen festen Partner hat und braucht sie nicht. Ältere Kollegen wie der stämmige Ettore Macaione (»poliziotto XL«), der interessant aus der polizeilichen Vergangenheit zu erzählen weiß, lassen keine Gelegenheit aus, mit ihr zu schäkern, und sympathische Jüngere, die mehr von ihr wollen als die üblichen battute, gibt es genug. Aber ein Märchenprinz hat sich noch nicht vorgestellt, und so verteilt sie ihre Zuneigung nach Laune und Nutzen, vermeidet Komplikationen und Einengungen ihrer Freiheit.
Eines Tages liest sie in der Zeitung von einer alten Schulfreundin, Rosellina, die sich beklagt, dass die Kripo sieben Monate nach der Ermordung ihrer Großmutter Anna Fundarò noch immer keinerlei Ergebnisse vorweisen könne. Auch die Journalistin, die Rosellina interviewte, kennt Angela, denn es ist Sandra aus dem Sommelier-Kurs. Die Sache interessiert Angela, sie spricht mit ihren Freundinnen und beschließt, sich in ihrer Freizeit mit dem Fall zu befassen.
Nun zeigt sich, aus welchem Holz sie geschnitzt ist. Halbe Sachen macht sie nicht. Nachdem sie erste Merkwürdigkeiten festgestellt hat, verbeißt sie sich in den Fall. Nicht nur die von Berufs wegen neugierige Sandra erweist sich als nützlich, sondern auch Kollege Santo Iovino, vor kurzem zur Squadra Omicidi aufgestiegen und immer willig, ihr Informationen aus seiner Behörde zu servieren, wenn er dafür eine Einladung zu einem intimen Essen wittert. Bald nehmen Angelas Feierabend-Recherchen sie stärker in Beschlag als ihr Beruf, der nur noch so nebenbei läuft.
Warum ist der Mord an Anna Fundarò nicht längst aufgeklärt? Die fünfzigjährige Perückenmacherin war eine hochgeschätzte Kapazität in ihrem Fach. Ob Kranke, Eitle, Snobs, Transvestiten, Salonlöwen, Theater- oder Showleute, ob sie ein teures Einzelstück oder ein Haarteil von der Stange in Auftrag gaben – Signora Anna arbeitete für alle mit gleicher Sorgfalt und Diskretion. Jeder aus diesem unüberschaubaren Kreis könnte als Täter in Frage kommen. Jetzt lag sie mit über zehn Einstichen in den Brustkorb in ihrem Blut. Vielleicht hatte, wer ihre Leiche aufgefunden hatte, ihr noch Hilfe leisten wollen, jedenfalls vereitelte schon der chaotisch zugerichtete Schauplatz eine rasche Aufklärung der Tat. Da waren Annas Werkzeuge, auch Chemikalien, Schuhabdrücke selbst in Blutlachen, Lageveränderungen der Leiche und der Tatwaffe, Schlampereien bei der Aufnahme des Tatorts.
Doch wenn eine geborene sbirra wie Angela sich hinter so einen Fall klemmt, bleibt sie nicht an der Oberfläche. Begleitet von ihrer Freundin oder im Alleingang, unter geschickter Vortäuschung harmloser Identitäten und Absichten pirscht sie sich an Hinterbliebene, Freunde, Kunden und Nachbarn heran, entlockt ihnen überraschende Details, entdeckt verblüffende Unstimmigkeiten, denkt scharf nach und zieht ihre Schlüsse wie einst Sherlock Holmes.
Je weiter ihre Privatermittlungen fortschreiten, desto fragwürdiger und gefährlicher wird ihr eigenes Vorgehen. Sie quält sich »nel ruolo scomodo di chi sa ma non dovrebbe sapere«. Müsste sie ihren Vorgesetzten nicht offenlegen, was sie herausbekommen hat? Dann müsste sie freilich ihre Helfer verraten. Was, wenn sie einen Fehler macht, auffliegt oder ihre unauthorisierten Untersuchungen scheitern? Sie würde gefeuert und müsste wieder Cocktails mixen … Ihre Lage entbehrt nicht der Ironie: Sie riskiert »la sua carriera per amore del suo stesso lavoro«.
Gian Mauro Costa, 1952 in Palermo geboren, Journalist (u.a. bei der RAI) und Autor, erzählt mit leichter Feder und ohne jegliche Sperenzchen einen unterhaltsamen Herbstkrimi (es ist Oktober, und Angela, ein sonniges Gemüt, bedauert, dass es kühler wird). Der blutige Kriminalfall sorgt für lokales Aufsehen, die Spannung raubt einem nicht den Schlaf, die Aufklärung schreitet gemächlich voran, und es dauert eine Weile, bis man Feuer fängt und begierig weiterliest, um herauszufinden, wer der Mörder und was sein Motiv sein mag. Was das Buch lesenswert macht, ist die sympathische Protagonistin, die einfach nur nett, clever, verantwortungsbewusst und ansonsten völlig normal ist (und deren Talent sie sicherlich bald in die Mordkommission befördern wird), und der klischeefrei eingeflochtene Schauplatz Palermo, seine vitale Atmosphäre, viele Plätze und Straßen, die palazzi, die Menschen, die freundlichen Dialoge.
Was hat es mit dem Titel auf sich? »Stella o croce« ist ein Spiel wie »Kopf oder Zahl«. Laut Angelas Tante Giuseppina spielt es der liebe Gott jeden Tag mit uns. »La stella è quella della nascita, la croce quella della morte.«