Das Böse, es bleibt
von Luca D'Andrea
Marlene, die junge Gattin des Capo von Südtirol, sucht vor ihm das Weite, stürzt aber einen Abhang hinab. Ein verschrobener Bergbauer rettet sie auf seinen verschneiten Erbhof. Aber sicher ist sie dort mitnichten.
Schwein gehabt
Wer den Erstling gelesen hat, erkennt das Strickmuster wieder. Dessen Grundmotive sind: Südtirols raue Gebirgswelt, knorrige Menschen, darunter treue Freunde, aber auch Monster, die sich gut verstellen können, allerlei Märchen und Mythen inklusive der zugehörigen Fabelwesen sowie ein Plot, der alle Leserbedürfnisse zwischen Action, Folklore und Sentiment befriedigt. Bei D’Andreas Debüt »Der Tod so kalt« [› Rezension] war die Mixtur frisch und zeitigte einen sensationellen Verkaufserfolg. In der Neuauflage »Das Böse, es bleibt« ist das Gesamtkonstrukt noch immer gewöhnungsbedürftig, wenn nicht noch befremdlicher.
Die Handlung nimmt ihren Ausgang in den Siebzigerjahren in der idyllischen Stadt Meran. Ringsum glitzern die gleißenden Gipfel der verschneiten Dolomiten vor blauem Himmel. Gleich im zweiten von 119 Kapitelchen lesen wir manch Rätselhaftes über Hexen, Kobolde, Lebkuchen, »Knusper, knusper, knäuschen …« und rutschen mitten in die Märchenwelt, in der alles Folgende seinen Auslöser findet.
Marlene, 22, ist entschlossen, ihr Leben zu ändern. Was sie dazu braucht, entnimmt sie dreist dem Safe ihres zwanzig Jahre älteren Ehemannes Robert: ein Bündel Geldscheine und einen Samtbeutel voller Saphire. Dann nichts wie weg, denn Marlene hat Angst, und das zu Recht. Mit Robert ist nicht zu spaßen. Flugs besteigt sie ihren Fiat 130 (wir kennen D’Andreas Obsession für exakte Produktbezeichnungen schon), wirft ihren Ehering aus dem Fenster und tauscht das Auto beim Gebrauchtwagenhändler gegen einen Mercedes (W114) ein. Doch ihre Flucht in die Schweiz verläuft anders als geplant. Im heftigen Schneefall kommt sie auf einer Nebenstraße ins Schlingern und stürzt in den gähnenden Abgrund. »Klaus«, haucht sie noch, ehe sie ohnmächtig wird.
Robert, auch das lernen wir sofort, ist das personifizierte »Böse«, das der Titel meint. Er hasst nicht nur Scherze, sondern jegliche menschliche Nähe. Nicht einmal seine Gattin durfte ihn anders als »Herr Wegener« ansprechen, wollte sie nicht seinen Zorn zu spüren bekommen. Dessen ungeachtet ist Herr Wegener eine respektierte Persönlichkeit, nicht ehrenwert, aber gefürchtet. Sein Aufstieg ist mit kriminellen Wackersteinen gepflastert – »Schutzgelderpressung, Hehlerei, Betrug und Mord« – und hat ihm über bedeutende Persönlichkeiten Macht verschafft. Deren Fundament steckt in einer abgegriffenen Kladde in seinem Safe. Auf knittrig geblätterten Seiten hat Herr Wegener mit seiner winzigen Handschrift die Namen aller Schuldner, Freunde und Freunde von Freunden notiert. Listen, an denen Blut und lebenslange Haftstrafen kleben.
Und diesen Herrn hat Marlene nun übel verraten. Das wird er sich nicht gefallen lassen. Er hat seine »Augen und Ohren überall« und dazu skrupellose Handlanger für die schmutzigsten Jobs. Für Marlene kann das gar nicht gut ausgehen. Oder vielleicht doch? Schließlich brutzelt die Hexe, die Hänsel und Gretel gefangen hielt, am Ende im Ofen.
Aus mehreren Perspektiven und mit Rückblenden in die Vergangenheit vieler Personen erzählt Luca D’Andrea, wie sich die Handlung bis zu Marlenes Flucht und danach weiter entwickelt. Da lernen wir, woher das Böse kommt. Im Falle des Herrn Wegener ist es die Erziehung. Der kleine Robert, vaterlos in bitterster Armut aufgewachsen, lernt einen SS-Mann kennen, der ihn das Große Einmaleins des Schreckenshandwerks lehrt. Ehe der Krieg verlorengeht, wechselt »Gewährsmann Kobold«, inzwischen perfekt im Nahkampf, Karten- und Kompasslesen, Verhören und Foltern, die Seite, unterstützt Partisanen, Briten und Amerikaner, die seine Fachkompetenz ebenso schätzen wie die Geheimisse, um die er weiß. An sich selbst denkt er aber auch, baut sich ein kleines Imperium auf und wird zum gefürchteten Capo Südtirols.
Eine wesentlich ungewöhnlichere Figur entspringt Luca D’Andreas Kreativität allerdings mit dem knorrigen alten Bergbauern Simon Keller. Der tritt als Guter ins Geschehen, indem er die verunglückte Marlene zu seinem einsamen Erbhof hoch oben in den verschneiten Bergen schleppt und gesund pflegt. Da landet sie in einer längst vergangenen Zeit, einer anderen Welt, wo dunkelfleckige Schweine im finsteren Stall grunzen, nichts als ein bisschen Moos in den Fenstern die eisige Bergluft aus den verrußten, verräucherten Räumen fernhält und der einsame, wortkarge Alte mit schwarzem Hut die fadenscheinige Kleidung seines längst verstorbenen Vaters aufträgt. So befremdlich er Marlene erscheint, wieso sollte sie ihrem genügsamen Wohltäter misstrauen? Einem, der wie alle seine Vorväter eigenhändig die Bibel abschreibt, kann doch kein schlechter Mensch sein.
Seine Vita ist anrührend. Auch er wuchs unter erbärmlichen Umständen auf und ertrug schon als Bub klaglos die härtesten Plackereien auf dem Hof (seit 1333 in Familienbesitz). Aber ein tragisches Ereignis in seiner Jugend veränderte ihn nachhaltig. Was seither in seinem Inneren tobt, schildert der Autor mitreißend und schön gruselig. Mehr darf hier nicht verraten werden, denn dies sind die Filetstücke des Romans, die D’Andreas Ruf als Thriller-Autor ersten Ranges bestätigen.
Dass Plot und Spannung auf allerlei Märchen-, Mythen- und irrationale Elemente gebaut sind, ist nicht jedermanns Sache, aber D’Andrea nimmt diese Dinge selbst nicht ganz ernst, hat man den Eindruck, sondern spielt mit ihnen, wie bereits in seinem Erstling, um mit einem unterhaltsamen Mix zu kitzeln.
Literarisch kann »Lissy« (stilgetreu übersetzt von Susanne Van Volxem und Olaf Roth) nicht so recht punkten. Zu aufgesetzt und oberflächlich wirken D’Andreas stilistische Manien, sein trockener, schlichter Stil mit kurzen Sätzen und Kapitelchen (manche umfassen nur ein paar Wörter), die abrupt mitten in unbekannte Situationen springen. Nach anfänglichem Fremdeln gewöhnt man sich daran, aber dann verliert all das bald seinen Reiz.
Auch den Charakteren mangelt es an Substanz und menschlicher Tiefe. Herr Wegener etwa wirkt als Erwachsener wie eine hölzerne Marionette, die blutleer und ungelenk auf der Bühne hampelt. Er hat sich an das Böse verkauft und seine Seele verloren. Seine Ehefrau Marlene gewinnt erst im Hauptteil der Handlung an Format, wenn sie zwischen Angst und Zutrauen hin und her gerissen wird und ihre (wie unsere) Anspannung in beachtliche Höhen getrieben wird. Flach wie Comic-Figuren sind schließlich Herrn Wegeners sieben treue Gefolgsleute, »blutdürstige Bestien«, die in ihrer Überzeichnung dennoch nur ein müdes Gähnen entlocken.
Ein recht durchwachsenes Fazit also für Luca D’Andreas zweiten Thriller, der wie aus dem 3D-Drucker daherkommt: perfekt durchkonstruiert, an der Oberfläche aalglatt und hübsch anzuschauen (bzw. zu lesen), aber halt aus Kunststoff. Er ist auf kurzweilige Abwechslung hin angelegt – hierfür die unterschiedlichen Perspektiven und zahlreichen Handlungsstränge, viele davon freilich reiner Füllstoff aus Luftblasen, die schnell zerplatzen und nichts hinterlassen. Spannungserzeugung ist das zweite Bauprinzip, weshalb die meisten Kapitel mit einem Cliffhanger enden. Was bleibt nach der letzten Seite im Gedächtnis? Ein paar gut gemachte reißerische Effekte, ein paar Klischees zur Südtiroler Berglandschaft, der alte Simon mit seinen Tieren – und natürlich »das Böse«.