Rezension zu »Fast genial« von Benedict Wells

Fast genial

von


Belletristik · Diogenes · · Gebunden · 322 S. · ISBN 9783257067897
Sprache: de · Herkunft: de

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Frozen Angels

Rezension vom 08.09.2011 · 37 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Francis Dean ist ein Retortenbaby. Das erfährt er zu seiner Überraschung aus dem Abschiedsbrief seiner Mutter Katherine nach ihrem Selbstmordversuch in der Psychiatrie. Siebzehn Jahre lang hatte er geglaubt, er sei ein "Unfall" aus einer der vielen wechselnden Liebesbeziehungen seiner damals noch lebenslustigen Mutter.

Seine Kindheit verbrachte er in geordneten Verhältnissen. Katherine heiratete den Anwalt Ryan Wilco, der sich redlich bemühte, Francis ein guter Vater zu sein. Doch mit der Geburt des jüngeren Halbbruders Nicky veränderte sich vieles in der kleinen Familie, und als Francis dreizehn war, ließen Katherine und Ryan sich scheiden. Ryan und Nicky zogen aus dem schönen gemeinsamen Haus in Jersey City nach Newark, Katherine und Francis nach Claymont. Dort wohnte in ihrer Nachbarschaft Francis' Klassenkamerad und bester Freund Grover, ein echter nerd, unsicher, mit lahmer Stimme und schrillen Klamotten. Francis, ein wettkampferprobter Ringer, stellte sich oft vor ihn, um ihn vor mobbenden Mitschülern zu schützen.

Nach ihrer Scheidung verfällt Katherine mehr und mehr in Depressionen. Ihren Job als Sekretärin kann sie nicht halten, und ohne Geld geht es gesellschaftlich abwärts. Sie muss Claymont verlassen und zieht mit Francis in den Pine-Tree-Trailerpark am Stadtrand – in ein Underdog-Milieu mit kaputten Familien, verstörten Kindern mit debilem Gesichtsausdruck, Losern, Verrückten, Drogenabhängigen, Alkoholikern ... Abhauen von hier wollen alle, aber das Gefühl, es wohl nie zu schaffen, verbindet sie.

Nun hausen Francis und Mom schon seit über zwei Jahren in ihrem versifften Wohnwagen. Als Mom ihren dritten Nervenzusammenbruch erleidet, muss Francis sie gegen ihren Willen in die ihr schon vertraute, aber verhasste Psychiatrie bringen. Jetzt ganz auf sich allein gestellt, erinnert sich Francis an die Zeiten mit Stiefvater Ryan und das gutbürgerliche, liebevolle Leben in Grovers Familie, und nach Lektüre des Abschiedsbriefs verspürt er Fremdes in sich, Aggressionen, auch gegen seinen ihm unbekannten Vater, dem er freilich zugesteht, dass er gar nichts von der Existenz seines Sohnes wissen mag.

Moms Brief öffnet Francis die Augen. Sie hatte nicht herumgehurt. Vielmehr hatte sie sich auf eine Zeitungsannonce hin beworben, an einem Experiment teilzunehmen, und ihre eigentliche Motivation war wohl das damit verknüpfte Stipendium. Die beiden Wissenschaftler Warren P. Monroe und der österreichische Eugeniker Dr. Friedrich von Waldenfels (dem der Ruf anhängt, schon im Nationalsozialismus an Menschenversuchen beteiligt gewesen zu sein) wollten eine Samenbank für Genies einrichten. Nur Nobelpreisträger und herausragende Wissenschaftler spendeten ihren Samen, der in Monroes Privatkliniken eingefroren und dann ausgewählten Frauen implementiert wurde. Monroe und von Waldenfels waren überzeugt, dass sie einen wegweisenden Schritt in die Zukunft tun und reihenweise Genies züchten könnten. Die Ergebnisse waren jedoch enttäuschend: Alle Kinder – bis auf den genialen Alistair Haley – erwiesen sich nur als durchschnittlich begabt. Die Kliniken wurden geschlossen. Monroe ist mittlerweile tot, von Waldenfels dement.

Alle Teilnehmer an dem großen Experiment waren zur Verschwiegenheit verpflichtet; die Spender wurden unter Decknamen geführt. Dennoch erhält Francis erste Hinweise, denn Katherine hatte in der Monroe-Klinik ein Verhältnis mit einem Assistenten, der ihr heimlich ihre Akte zuspielte: Francis' Vater trägt den Spender-Decknamen James, ist Harvard-Absolvent, spielt Cello und hat einen IQ von 170. So stolz Francis zunächst auf diesen wahren Vater ist, so erschüttert diese Erkenntnis doch sein Selbstbild: Warum, muss er sich jetzt fragen, ist er denn angesichts seiner Premium-Gene ein solcher Versager? Als Kind hat er den Schul-Eignungstest noch als Bester bestanden – er muss also nur mehr aus sich machen ...

Zuallererst aber will Francis seinen wahren Vater finden. Von seinem Stiefvater Ryan erbettelt er Geld, Grover überredet er, ihn in dessen Chevy zu chauffieren, und als Dritte im Bunde wird Anne-May an der Suchaktion quer durch Amerika teilnehmen – die hat Francis als suizidale Patientin in der Psychiatrie kennengelernt und sich in sie verliebt.

Benedict Wells Roman "Fast genial" basiert auf einer tatsächlichen wissenschaftlichen Versuchsreihe aus den Jahren 1980 bis 1999. Das "Repository for Germinal Choice" wurde von Robert Clark Graham nach dem gleichen Konzept und mit den gleichen Zielsetzungen wie die Monroe-Klinik gegründet – und auch sie konnte aus über 200 Retortenbabys keine revolutionär intelligente Menschheit züchten. Schließlich wurde das Projekt aus ideologischen, aber auch aus anderen Gründen beendet – zum Beispiel ist fraglich, ob überhaupt alle Samenspender tatsächlich herausragende Persönlichkeiten waren; verbürgt ist nur der Physik-Nobelpreisträger William Shockley.

Die Frage, wie wir werden, was wir sind, bleibt auch nach Jahrhunderten letztlich ungelöst. Je nach Forschungsmöglichkeiten und vorherrschenden Ideologien neigen Forscher und Interessierte zu der Ansicht, dass das Individuum durch seine Gene vorbestimmt ist; andere sind dagegen überzeugt, dass der Einzelne durch die Konditionen und Einflüsse seines Umfeldes geprägt wird: Nature or Nurture? Beides sind plausibel nachzuweisende Positionen mit weitreichenden, höchst konkreten praktischen Folgen in vielen Sparten gesellschaftlichen Lebens: Erziehung, Schulpolitik, Strafvollzug, Medien, Genetik, Philosophie ... Da die DNA nun entschlüsselt ist, erhält der Wunsch, den idealen Menschen zu basteln, neuen Antrieb. Doch für die damit verbundenen Fragen finden wir noch viel schwerer Antworten: Was ist denn eigentlich ein idealer Mensch? Wo sind die Grenzen dessen, was Wissenschaft darf, was sich der Mensch erlauben kann?

Zu diesen spannenden Fragen bezieht Benedict Wells in seinem Roman keine wahrnehmbare Stellung. Er unterhält uns gut vor dem Hintergrund, will sich aber nicht mit den Pros, Contras und unendlich vielen Zwischentönen auseinandersetzen, schon gleich nicht eine eigene Meinung propagieren. Sein Protagonist muss sich mit Selbstzweifeln und Wechselbädern zwischen Hoffnung und Enttäuschung quälen, am Ende aber setzt er sein lang erspartes Geld in den Spielhöllen von Las Vegas auf das Glück des Zufalls – seine Zukunft planvoll in die Hand zu nehmen ist er nach wie vor nicht in der Lage. Die Kugel rollt ...

So ist "Fast genial" ein sprachlich angenehm zu lesendes, abwechslungsreiches roadmovie in Buchform um drei jugendliche Protagonisten, die voller individueller Träume stecken. Wir schlagen uns mit ihnen von Claymont nach New York, durch den Mittleren Westen nach Las Vegas, San Francisco, Los Angeles und schließlich bis ins mexikanische Tijuana durch; nachdem der Vater gefunden wurde, trennen sich ihre Wege.

P.S.: Benedict Well, 1984 in München geboren, wurde 2009 mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet – für seinen Roman "Becks letzter Sommer", der 2008 bei Diogenes erschienen war.


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