Rezension zu »Das Porzellanzimmer« von Sunjeev Sahota

Das Porzellanzimmer

von


Eine Brücke über vier Generationen spannt Sunjeev Sahotas Roman. Seine Urgroßmutter scheiterte im ländlichen Punjab mit ihrer Hoffnung, aus dem Gefängnis einer Zwangsehe ausbrechen zu können. Jahrzehnte später schlug ihr Schicksal ihren britischen Urenkel in seinen Bann, als er sich – am selben Ort – von seiner Drogenabhängigkeit befreite.
Belletristik · Hanser · · 240 S. · ISBN 9783446273887
Sprache: de · Herkunft: gb

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.
Gebundene Ausgabe E-Book

Die Zelle des Leidens und der Hoffnung

Rezension vom 19.08.2023 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Die Eltern des Ich-Erzählers sind im Jahr 2019 nach einer Knie­opera­tion des Vaters hilfebe­dürftig. Ihren kleinen, ohnehin nie richtig profi­tablen Laden können sie nicht mehr weiter­führen, das Haus soll verkauft werden. Nun führt der Sohn Kauf­interes­senten durch die Räume, in denen er bis vor zwanzig Jahren aufge­wachsen war. Was er sieht, katapul­tiert ihn zurück in seine Kindheit. Eines der vielen Familien­fotos an der Wand sticht ihm besonders ins Auge: Es zeigt seine Urgroß­mutter und ihren neu­gebore­nen Urenkel – ihn selbst –, nachdem sie um die halbe Welt nach England gereist war, nur um das Kind im Arm zu halten (Das Bild ist am Ende des Buches abge­druckt.).

Dieses Bild weckt (zusammen mit vielen anderen) bei dem Ich-Erzähler Inspira­tionen für einen Roman, der Elemente aus der Biografie seiner Familie und seines eigenen Lebens vereint und fiktional ausge­staltet. Der Plot beginnt mit derje­nigen Szene in der Kindheit der Urgroß­mutter, die ihre gesamte Existenz defi­nieren wird. Mehar, die lebens­lustige Fünf­jährige, spielt sorglos auf der Gasse, während ihre Eltern im Haus ein unbe­kanntes Paar begrüßen. Wie es die Gast­freund­schaft will, bietet man Tee und Mango­früchte an. Selbst Mehar spürt, als sie ins Haus gerufen wird, dass es wohl um »etwas Großes« geht. Getarnt unter belang­losem Gerede nimmt man sie kritisch in Augen­schein und urteilt schließ­lich, sie sei »geeig­net«. Aus heiterem Himmel hört sie: »Ihr neuer Name ist Mehar Kaur.«

Was es damit auf sich hat, erfährt sie bald von einem Cousin. Per Hand­schlag, wie beim Verkauf einer Ziege, hatte ihr Großvater mit einem Freund verein­bart, dass sie in ein paar Jahren dessen Enkel heiraten werde. Mehar ist entsetzt, doch wehren kann sie sich nicht. Dunkle Gedanken über­lagern Jahre der Kindheit, die doch eigent­lich unbe­kümmert sein sollten.

Als sie elf ist, stattet ihr Mai, die zukünf­tige Schwieger­mutter, einen Besuch ab und prüft ihre Reife. Wie bei einer Tierbe­schau drückt sie grob Mehars Brüste, fragt nach der ersten Blutung und gibt Rat­schläge, wie sie die Kind­lich­keit ihres Körpers bewahren solle.

Vier Jahre später – 1929 – verhei­ratet die inzwischen verwit­wete Mai ihre drei Söhne mit drei Frauen, darunter Mehar als jüngste. Um die Kosten so gering wie möglich zu halten, arran­giert sie die Feier an einem einzigen Tag und »ohne viel Brim­borium«. Schließ­lich geht es nur darum, die drei Neuzu­gänge als Arbeits­kräfte in Mais Haushalt einzu­binden. Die Bräute sind völlig ver­schleiert, dürfen den Kopf nicht heben, niemals ihrem Gegenüber in die Augen sehen und schon gleich nicht sprechen. So weiß am Ende keine von ihnen, welcher der drei Herren ihr Ehemann ist, und sie sind der Willkür der Männer und ihrer Schwieger­mutter ausge­liefert.

Der Alltag ist gleichförmig. Tagsüber komman­diert Mai ihre Schwieger­töchter wie Sklaven bei der Haus- und Feld­arbeit hin und her und bestraft sie hart, wenn sie Schwäche zeigen. Nur in der Nacht können sie sich in einem winzigen Zimmer­chen zurück­ziehen. Weil hier ein paar Teller von Mais Aussteuer auf einem Stein­regal an der Wand lehnen, wird es »China Room«, das Por­zellan­zimmer genannt.

Eine vordringliche Pflicht der Frauen ist natürlich, einen Sohn zu gebären. Zu diesem Zweck werden sie je nach Wunsch Mais oder eines Sohnes in eine stock­dunkle Kammer am Ende des Hofes einbe­stellt, wo der Ge­schlechts­akt ohne jede Gefühls­regung vollzogen wird. Da der Körper der Frauen verhüllt und ihr Gesicht ver­schleiert ist, können sie nicht zuver­lässig ausmachen, welcher der drei »Prinzen« sie gerade begattet. Der Schwieger­mutter wäre zuzu­trauen, dass sie keines­wegs immer den recht­mäßigen Ehemann abordnet.

Aus diesen tristen Gegeben­heiten ent­wickelt der britische Schrift­steller Sunjeev Sahota eine tragische Handlung. Da die drei Frauen im Por­zellan­zimmer durchaus ihre Wahr­nehmun­gen aus­tauschen, glaubt Mehar bald erschlos­sen zu haben, welcher der drei Brüder ihr wahrer Mann sein muss. Ohne ihn je von Angesicht zu Angesicht zu sehen, verliebt sie sich in ihn, empfindet ihre Gefühle erwidert, wird schwanger, und die beiden ent­wickeln einen Flucht­plan. Doch ihr Vorhaben steht auf unsiche­rem Grund.

Des Autors Großeltern väterlicher­seits stammten aus dem indischen Bundes­staat Punjab, wo der zweite, aktuel­lere Erzähl­strang spielt. 1966 emi­grieren sie nach Groß­britan­nien, wo sie sich ein sicheres Leben aufbauen wollen. Doch ihr 1981 geborener Enkel (der spätere Schrift­steller) verfällt in jungen Jahren der Drogen­sucht, was seine Eltern zur Ver­zweif­lung treibt. In der Hoffnung, dass er im Land seiner Ahnen zur Besinnung komme, schicken sie ihn zurück in den Punjab, wo Onkel und Tante ihn wenig begeis­tert aufnehmen, den Nichts­nutz aber bald auf die verlas­sene, herunter­gekom­mene Farm der Familie auf dem Lande abschie­ben.

Von einem weißbärtigen Alten mit dem Nötigs­ten versorgt, durch­leidet der junge Mann hier seinen Entzug. Als Schlaf­stätte zieht er sich in einen engen, vergit­terten Raum zurück, in dessen Dunkel­heit und Stille »voll einge­bilde­ter Laute und Nicht-Geräusche« er Höllen­qualen erlebt und schließ­lich zu sich selbst findet. Der alte Mann lässt ihn wissen, dass seine Urgroß­mutter Mehar Kaur einst in diesem Zimmer­chen einge­sperrt worden sei, was ihren Urenkel, der bisher wenig über seine Vorfahren wusste, tief erschüt­tert.

Aus der Jetztzeit zurückblickend erzählt uns Sunjeev Sahota die ergrei­fenden Gescheh­nisse aus zwei Welt­gegen­den und drei Zeit­phasen. Die jüngste Episode – in der das elter­liche Haus verkauft werden soll – liefert über die Foto­grafie nur die Motiva­tion für die beiden eigent­lichen Erzäh­lungen. Deren ältere – Mehars Leidens- und Liebes­geschich­te – legt ein Fundament für die später folgenden Erleb­nisse des Autors am gleichen Ort (Punjab), wo er erstmals eine Ver­bunden­heit mit seiner Urgroß­mutter verspürt. Sie manifes­tiert sich am Ende darin, dass er das verfal­lene alte Gebäude wieder instand­setzt.

Der Erzählstruktur entsprechend illustriert der Roman Themen aus zwei Kultur­kreisen. In Indien begegnen wir der traditio­nellen Gering­schätzung der Frauen, die mitleid­los unter­drückt, ausge­beutet und zwangs­verhei­ratet werden und denen keinerlei Rechte zustehen. Nur Rand­notizen nehmen im Roman die großen histori­schen Ent­wick­lungen der Zeit ein – die Politik gegen die britische Kolonial­macht, die kontro­versen Vor­stellun­gen für die ange­strebte Unab­hängig­keit, der gegen­seitige Hass zwischen Muslimen und Hindus, der sich nach der Auf­spaltung von Indien und Pakistan (»Partition of India«) 1947 in einem Gemetzel entlud. Von all dem bekommen die Menschen in den abgele­genen Dörfern nur wenig mit.

Umso präsenter in ihrem Alltag sind die brutalen Folgen arran­gierter Ehen. Den Körper in der Kleidung vergraben, Gesicht und Augen so verhüllt, dass sie nur mit Mühe ihre Füße sehen kann, trägt jede Ehefrau ihr Gefängnis förmlich auf der Haut. Da an ihre Fesseln bim­melnde Glöckchen gebunden sind, kann sie sich niemals unbe­merkt bewegen. Ihr Körper dient einzig der Befriedi­gung ihres Mannes und der Zeugung eines Sohnes, und er muss jeder noch so schweren Arbeit stand­halten, die ihm zugemutet wird.

Nach dem Ende des Zweiten Welt­kriegs suchten Tausende Punjabis ihr Heil in der Emigra­tion, vor allem nach Groß­britan­nien, wo alle Bewohner der ehema­ligen Kolonien und der Common­wealth-Länder seit Ende der Vier­ziger­jahre britische Staats­bürger und als Arbeits­kräfte gesucht waren. Doch wie in allen anderen Ländern mit vielen Zuzüglern gestal­tete sich ihre Inte­gration problem­beladen. Die einen Migranten assimi­lierten sich gern, andere sonderten sich ab und beharrten auf ihren mitge­brachten Eigen­heiten. Manche Einhei­mische begrüßten die Fremden als Be­reiche­rung, bei anderen überwogen Skepsis und Ängste. Die Kinder der Einwan­derer (die »second gene­ration«), die es doch mal besser haben sollten, fanden sich oft ausge­grenzt und orien­tierungs­los im Wider­streit der An­forde­rungen, Ver­lockun­gen und Werte der alten Welt ihrer Eltern und denen der modernen neuen Heimat – und nicht wenige strau­chelten.

Neben der so spannenden wie erschütternden Handlung voller Hoff­nungen und großem Leid, Irr­tümern und Täu­schungen, Unter­werfung und selbst­bewuss­tem Wagemut überzeugt »China Room« auch durch einfühl­same Schilde­rungen und farben­präch­tige Szenen. Wie Mehars zarte Gefühle für einen Mann im Verbor­genen keimen und sich entfalten, wie der Mann sie spiegelt und stärkt, ist eine der schönsten, zärt­lichsten Liebes­geschich­ten in diesem Frühjahr, voller Poesie und Bildkraft. Dank Sunjeev Sahotas Sprach­kunst und Ulrike Wasels und Klaus Timmer­manns konge­nialer Über­setzung gelingt dieses Meister­werk absolut kitsch­frei.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblings­bücher im Frühjahr 2023 aufge­nommen.


War dieser Artikel hilfreich für Sie?

Ja Nein

Hinweis zum Datenschutz:
Um Verfälschungen durch Mehrfach-Klicks und automatische Webcrawler zu verhindern, wird Ihr Klick nicht sofort berücksichtigt, sondern erst nach Freischaltung. Zu diesem Zweck speichern wir Ihre IP und Ihr Votum unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Ja« oder »Nein« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.

»Das Porzellanzimmer« von Sunjeev Sahota
erhalten Sie im örtlichen Buchhandel oder bei Amazon als
Gebundene Ausgabe E-Book


Kommentare

Zu »Das Porzellanzimmer« von Sunjeev Sahota wurde noch kein Kommentar verfasst.

Schreiben Sie hier den ersten Kommentar:
Ihre E-Mail wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Ihre Homepage wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Hinweis zum Datenschutz:
Um Missbrauch (Spam, Hetze etc.) zu verhindern, speichern wir Ihre IP und Ihre obigen Eingaben, sobald Sie sie absenden. Sie erhalten dann umgehend eine E-Mail mit einem Freischaltlink, mit dem Sie Ihren Kommentar veröffentlichen.
Die Speicherung Ihrer Daten geschieht unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Senden« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.


Go to Top