
Das Porzellanzimmer
von Sunjeev Sahota
Eine Brücke über vier Generationen spannt Sunjeev Sahotas Roman. Seine Urgroßmutter scheiterte im ländlichen Punjab mit ihrer Hoffnung, aus dem Gefängnis einer Zwangsehe ausbrechen zu können. Jahrzehnte später schlug ihr Schicksal ihren britischen Urenkel in seinen Bann, als er sich – am selben Ort – von seiner Drogenabhängigkeit befreite.
Die Zelle des Leidens und der Hoffnung
Die Eltern des Ich-Erzählers sind im Jahr 2019 nach einer Knieoperation des Vaters hilfebedürftig. Ihren kleinen, ohnehin nie richtig profitablen Laden können sie nicht mehr weiterführen, das Haus soll verkauft werden. Nun führt der Sohn Kaufinteressenten durch die Räume, in denen er bis vor zwanzig Jahren aufgewachsen war. Was er sieht, katapultiert ihn zurück in seine Kindheit. Eines der vielen Familienfotos an der Wand sticht ihm besonders ins Auge: Es zeigt seine Urgroßmutter und ihren neugeborenen Urenkel – ihn selbst –, nachdem sie um die halbe Welt nach England gereist war, nur um das Kind im Arm zu halten (Das Bild ist am Ende des Buches abgedruckt.).
Dieses Bild weckt (zusammen mit vielen anderen) bei dem Ich-Erzähler Inspirationen für einen Roman, der Elemente aus der Biografie seiner Familie und seines eigenen Lebens vereint und fiktional ausgestaltet. Der Plot beginnt mit derjenigen Szene in der Kindheit der Urgroßmutter, die ihre gesamte Existenz definieren wird. Mehar, die lebenslustige Fünfjährige, spielt sorglos auf der Gasse, während ihre Eltern im Haus ein unbekanntes Paar begrüßen. Wie es die Gastfreundschaft will, bietet man Tee und Mangofrüchte an. Selbst Mehar spürt, als sie ins Haus gerufen wird, dass es wohl um »etwas Großes« geht. Getarnt unter belanglosem Gerede nimmt man sie kritisch in Augenschein und urteilt schließlich, sie sei »geeignet«. Aus heiterem Himmel hört sie: »Ihr neuer Name ist Mehar Kaur.«
Was es damit auf sich hat, erfährt sie bald von einem Cousin. Per Handschlag, wie beim Verkauf einer Ziege, hatte ihr Großvater mit einem Freund vereinbart, dass sie in ein paar Jahren dessen Enkel heiraten werde. Mehar ist entsetzt, doch wehren kann sie sich nicht. Dunkle Gedanken überlagern Jahre der Kindheit, die doch eigentlich unbekümmert sein sollten.
Als sie elf ist, stattet ihr Mai, die zukünftige Schwiegermutter, einen Besuch ab und prüft ihre Reife. Wie bei einer Tierbeschau drückt sie grob Mehars Brüste, fragt nach der ersten Blutung und gibt Ratschläge, wie sie die Kindlichkeit ihres Körpers bewahren solle.
Vier Jahre später – 1929 – verheiratet die inzwischen verwitwete Mai ihre drei Söhne mit drei Frauen, darunter Mehar als jüngste. Um die Kosten so gering wie möglich zu halten, arrangiert sie die Feier an einem einzigen Tag und »ohne viel Brimborium«. Schließlich geht es nur darum, die drei Neuzugänge als Arbeitskräfte in Mais Haushalt einzubinden. Die Bräute sind völlig verschleiert, dürfen den Kopf nicht heben, niemals ihrem Gegenüber in die Augen sehen und schon gleich nicht sprechen. So weiß am Ende keine von ihnen, welcher der drei Herren ihr Ehemann ist, und sie sind der Willkür der Männer und ihrer Schwiegermutter ausgeliefert.
Der Alltag ist gleichförmig. Tagsüber kommandiert Mai ihre Schwiegertöchter wie Sklaven bei der Haus- und Feldarbeit hin und her und bestraft sie hart, wenn sie Schwäche zeigen. Nur in der Nacht können sie sich in einem winzigen Zimmerchen zurückziehen. Weil hier ein paar Teller von Mais Aussteuer auf einem Steinregal an der Wand lehnen, wird es »China Room«, das Porzellanzimmer genannt.
Eine vordringliche Pflicht der Frauen ist natürlich, einen Sohn zu gebären. Zu diesem Zweck werden sie je nach Wunsch Mais oder eines Sohnes in eine stockdunkle Kammer am Ende des Hofes einbestellt, wo der Geschlechtsakt ohne jede Gefühlsregung vollzogen wird. Da der Körper der Frauen verhüllt und ihr Gesicht verschleiert ist, können sie nicht zuverlässig ausmachen, welcher der drei »Prinzen« sie gerade begattet. Der Schwiegermutter wäre zuzutrauen, dass sie keineswegs immer den rechtmäßigen Ehemann abordnet.
Aus diesen tristen Gegebenheiten entwickelt der britische Schriftsteller Sunjeev Sahota eine tragische Handlung. Da die drei Frauen im Porzellanzimmer durchaus ihre Wahrnehmungen austauschen, glaubt Mehar bald erschlossen zu haben, welcher der drei Brüder ihr wahrer Mann sein muss. Ohne ihn je von Angesicht zu Angesicht zu sehen, verliebt sie sich in ihn, empfindet ihre Gefühle erwidert, wird schwanger, und die beiden entwickeln einen Fluchtplan. Doch ihr Vorhaben steht auf unsicherem Grund.
Des Autors Großeltern väterlicherseits stammten aus dem indischen Bundesstaat Punjab, wo der zweite, aktuellere Erzählstrang spielt. 1966 emigrieren sie nach Großbritannien, wo sie sich ein sicheres Leben aufbauen wollen. Doch ihr 1981 geborener Enkel (der spätere Schriftsteller) verfällt in jungen Jahren der Drogensucht, was seine Eltern zur Verzweiflung treibt. In der Hoffnung, dass er im Land seiner Ahnen zur Besinnung komme, schicken sie ihn zurück in den Punjab, wo Onkel und Tante ihn wenig begeistert aufnehmen, den Nichtsnutz aber bald auf die verlassene, heruntergekommene Farm der Familie auf dem Lande abschieben.
Von einem weißbärtigen Alten mit dem Nötigsten versorgt, durchleidet der junge Mann hier seinen Entzug. Als Schlafstätte zieht er sich in einen engen, vergitterten Raum zurück, in dessen Dunkelheit und Stille »voll eingebildeter Laute und Nicht-Geräusche« er Höllenqualen erlebt und schließlich zu sich selbst findet. Der alte Mann lässt ihn wissen, dass seine Urgroßmutter Mehar Kaur einst in diesem Zimmerchen eingesperrt worden sei, was ihren Urenkel, der bisher wenig über seine Vorfahren wusste, tief erschüttert.
Aus der Jetztzeit zurückblickend erzählt uns Sunjeev Sahota die ergreifenden Geschehnisse aus zwei Weltgegenden und drei Zeitphasen. Die jüngste Episode – in der das elterliche Haus verkauft werden soll – liefert über die Fotografie nur die Motivation für die beiden eigentlichen Erzählungen. Deren ältere – Mehars Leidens- und Liebesgeschichte – legt ein Fundament für die später folgenden Erlebnisse des Autors am gleichen Ort (Punjab), wo er erstmals eine Verbundenheit mit seiner Urgroßmutter verspürt. Sie manifestiert sich am Ende darin, dass er das verfallene alte Gebäude wieder instandsetzt.
Der Erzählstruktur entsprechend illustriert der Roman Themen aus zwei Kulturkreisen. In Indien begegnen wir der traditionellen Geringschätzung der Frauen, die mitleidlos unterdrückt, ausgebeutet und zwangsverheiratet werden und denen keinerlei Rechte zustehen. Nur Randnotizen nehmen im Roman die großen historischen Entwicklungen der Zeit ein – die Politik gegen die britische Kolonialmacht, die kontroversen Vorstellungen für die angestrebte Unabhängigkeit, der gegenseitige Hass zwischen Muslimen und Hindus, der sich nach der Aufspaltung von Indien und Pakistan (»Partition of India«) 1947 in einem Gemetzel entlud. Von all dem bekommen die Menschen in den abgelegenen Dörfern nur wenig mit.
Umso präsenter in ihrem Alltag sind die brutalen Folgen arrangierter Ehen. Den Körper in der Kleidung vergraben, Gesicht und Augen so verhüllt, dass sie nur mit Mühe ihre Füße sehen kann, trägt jede Ehefrau ihr Gefängnis förmlich auf der Haut. Da an ihre Fesseln bimmelnde Glöckchen gebunden sind, kann sie sich niemals unbemerkt bewegen. Ihr Körper dient einzig der Befriedigung ihres Mannes und der Zeugung eines Sohnes, und er muss jeder noch so schweren Arbeit standhalten, die ihm zugemutet wird.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs suchten Tausende Punjabis ihr Heil in der Emigration, vor allem nach Großbritannien, wo alle Bewohner der ehemaligen Kolonien und der Commonwealth-Länder seit Ende der Vierzigerjahre britische Staatsbürger und als Arbeitskräfte gesucht waren. Doch wie in allen anderen Ländern mit vielen Zuzüglern gestaltete sich ihre Integration problembeladen. Die einen Migranten assimilierten sich gern, andere sonderten sich ab und beharrten auf ihren mitgebrachten Eigenheiten. Manche Einheimische begrüßten die Fremden als Bereicherung, bei anderen überwogen Skepsis und Ängste. Die Kinder der Einwanderer (die »second generation«), die es doch mal besser haben sollten, fanden sich oft ausgegrenzt und orientierungslos im Widerstreit der Anforderungen, Verlockungen und Werte der alten Welt ihrer Eltern und denen der modernen neuen Heimat – und nicht wenige strauchelten.
Neben der so spannenden wie erschütternden Handlung voller Hoffnungen und großem Leid, Irrtümern und Täuschungen, Unterwerfung und selbstbewusstem Wagemut überzeugt »China Room« auch durch einfühlsame Schilderungen und farbenprächtige Szenen. Wie Mehars zarte Gefühle für einen Mann im Verborgenen keimen und sich entfalten, wie der Mann sie spiegelt und stärkt, ist eine der schönsten, zärtlichsten Liebesgeschichten in diesem Frühjahr, voller Poesie und Bildkraft. Dank Sunjeev Sahotas Sprachkunst und Ulrike Wasels und Klaus Timmermanns kongenialer Übersetzung gelingt dieses Meisterwerk absolut kitschfrei.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2023 aufgenommen.