Ein Bumerang
Wo er recht hat, hat er recht, der Verfasser des Briefes an die Tageszeitung »Östersunds-Posten«. In scharfem Ton prangert er an, wie das kulturelle Niveau der Gesellschaft absinke. Den Bürgern werde suggeriert, sie könnten ein menschenwürdiges, befriedigendes Leben führen, indem sie sich einfach hängen lassen. Die Hauptverantwortung für diesen Verfall schreibt der Autor den Medien zu. Sie böten nur noch anstrengungsfrei aufzunehmendes fast food, seichte Themen, die Leser und Zuschauer in Zufriedenheit einlullen. Den Konsumenten werde damit vorgespiegelt, billige Oberflächlichkeit, schlichte Dummheit und abstoßende Peinlichkeiten seien eine erstrebenswerte Norm. Sich um seine Fortentwicklung zu mühen, weiterzubilden, mit alternativen Wertsystemen auseinanderzusetzen müsse ihnen als völlig nutzlos erscheinen.
Konkret fragt der Briefschreiber, warum man beispielsweise »gefühllosen, egoistischen, oberflächlichen Wesen, die mit vulgären Tätowierungen übersät, mit Metallschrott im Mund und ihrem niedrigen IQ sowie ihrer niedrigen Allgemeinbildung durch die Gegend stolzieren«, Plattformen biete, so dass die Öffentlichkeit Zeuge wird, wie sie ihre Dummheit zur Schau stellen oder sich beim Geschlechtsverkehr filmen lassen. Stattdessen fordert er, Vorbildern mehr Raum zu geben, seriöse Reportagen und differenzierte Debatten zu veröffentlichen und intelligente, strebsame Menschen stärker zu fördern.
Seinen wahren Namen verrät der Absender nicht. Er unterzeichnet mit dem Pseudonym »Cato der Ältere«. Schloss jener römische Senator seine Reden mit der beschwörenden Floskel »Ceterum censeo Carthaginem esse delendam« ab, auf dass sich niemand mit der aus Karthago drohenden Gefahr abfinde, so geht der bildungsbeflissene Kulturförderer einen gewaltigen Schritt weiter. Er mordet die Doofen.
Catos erstes Opfer ist Miroslav Petrovic, 21, genannt »Mirre«. Er war in der TV-Dokusoap »Paradise Hotel« zu sehen und gewann den 3. Platz. Cato entführt den jungen Mann und unterzieht ihn einer Prüfung. Dazu hat er einen Katalog von sechzig Bildungsfragen zusammengestellt, von denen der Proband wenigstens ein Drittel richtig beantworten muss, um sich für das Weiterleben zu qualifizieren. Ob aus Unvermögen oder vor Aufregung (Mirre sitzt mit Handschellen und Ketten gefesselt am Tisch) ist unklar, jedenfalls scheitert Mirre, und sein Richter und Henker schreitet zur Tat.
Kurze Zeit später findet eine ahnungslose Schulleiterin in einem naturwissenschaftlichen Unterrichtsraum die nackte, muskulöse, tätowierte Leiche eines Mannes, auf dessen Rücken sein Mörder zwei DIN-A4-Blätter getackert hat – Cato lässt grüßen. Weitere Morde folgen, deren Muster leicht durchschaubar ist: Der Täter verabredet sich mit einem »Pseudopromi« in einem Lokal und löst ein paar Beruhigungstropfen in dessen Drink auf. Die anschließende Verschleppung des Opfers ist ein Kinderspiel.
Da hat sich das schwedische Autorenduo Michael Hjorth & Hans Rosenfeldt für den fünften Teil seiner erfolgreichen Serie um das Ermittlerteam der Reichsmordkommission Stockholm einen grandiosen Plot einfallen lassen. Wer würde angesichts des alltäglichen Elends in den Massenmedien, das Internet gleich einbezogen, Catos Wehklage nicht unterschreiben? Schon sein Konzept, die geistige Verfassung eines Menschen mit Hilfe eines schlichten Fragenkatalogs bestimmen zu können, ist freilich schwachsinnig, und die Hybris, Durchgefallene zu töten, ist es noch viel mehr. Aber daraus ließe sich eine überaus anregende Handlung stricken, die relevante Fragen aufwirft, in der Gesellschaft Diskussionen anregt, Stammtischparolen entlarvt, unterschiedliche Werte vor Augen führt – Cato also ironischerweise bestätigt und zugleich in seine Grenzen weist.
Doch Hjorth & Rosenfeldt gehen einen anderen Weg, der das Thema Kulturpessimismus geradezu verhöhnt.
Tatsächlich spielen Catos Motive überhaupt keine Rolle in diesem Krimi. Es könnte auch ein x-beliebiger Raubmörder, Sexualpsychopath oder ausgeflippter Investmentbanker sein, den die Reichsmordkommission aufspüren muss. Was Cato (und viele friedliche Mitbürger) so wütend macht, interessiert die Autoren so wenig, dass sie sich nicht einmal die Mühe machen, seinen Fragenkatalog über ungefähr zehn Beispiele hinaus zu konkretisieren.
Im Mittelpunkt steht vielmehr, wie schon aus den vier Vorgängerromanen gewohnt und bei den Followern beliebt, was im fünfköpfigen Ermittlerteam abgeht. Das besteht aus dem Leiter Torkel Höglund, Vanja Lithner, der Pathologin Ursula, dem IT-Experten Billy Rosén und dem Kriminalpsychologen Sebastian Bergman. Ihre privaten Nöte, Querelen, Wünsche, Beziehungsprobleme und Begierden füllen mindestens die Hälfte der weit über fünfhundert Seiten. Die Autoren pflegen wohl eine ins Extrem getriebene Version des schon seit den Neunzigerjahren populären Krimi-Typus des Noir, der sich gerade dadurch auszeichnet, dass seine Polizisten eher unsympathisch erscheinen, weil unfreundlich, lasterhaft, hinterhältig und dergleichen. Ihre persönlichen Krisen bilden einen gleichwertigen Handlungsstrang neben dem Ermittlungsfortschritt. Zusammen mit den oft knallharten Beschreibungen der Gewalttaten und ihrer Folgen vermitteln diese Romane eine zynische, pessimistische Weltsicht.
Schade nur, dass viel von dem, was Hjorth & Rosenfeldt erzählen, prima in Catos Feindbild passt. Die Ermittler sind selbst traurige Beispiele für die Oberflächlichkeit und Sinnentleerung, die Cato am Anfang des Buches publikumswirksam beklagen darf. Ihnen geht jede Empathie ab, jeder beschäftigt sich überwiegend mit seinem eigenen Begehren, und dabei scheint ihr Gehirn zeitweise vollständig in tiefere Regionen abzutauchen. Ein paar Beispiele sollen belegen, was für verkorkste Typen hier versammelt, wie hanebüchen die Charaktere konzipiert sind, wie an den Haaren herbeigezogen die Handlung konstruiert ist. Um niemandem die Spannung zu verderben, sind die Inhalte versteckt.
Vanja, mit ihren dreißig Jahren an Schicksalsschlägen gereift, bricht mit ihrer Mutter. Die hat ihre Tochter ein Leben lang belogen und ihr den leiblichen Vater verschwiegen. Jetzt endlich erfährt Vanja, wer ihr Erzeuger ist: Kollege Sebastian Bergman, der »notorische Lügner«. »Ihre Welt geriet ins Wanken.«
Klar: Mit diesem Kerl kann sie nicht mehr zusammenarbeiten. Entweder muss Sebastian das Team verlassen, oder Vanja geht. Ihr Chef Torkel schasst Sebastian.
Der »sexsüchtige« Sebastian ist komplett unterleibsgesteuert. Nachdem er es schon mit ihrer Schwester getrieben hatte, war in einer »erotisch aufgeladenen« Nacht Kollegin Ursula dran. Sebastian verfolgte dabei die Nebenabsicht, mit der eindeutigen Zweierstellung seine Exfreundin zu provozieren, die mit einer Pistole in der Hand am Türspion lauerte. Beim folgenden Gerangel verlor Ursula ihr rechtes Auge und trägt seither eine Augenprothese.
Später führt Ursula eine »unverbindliche Affäre« mit Torkel. »Nur während der Arbeit, nie zu Hause … Unkompliziert und selbstverständlich. Für sie war es dabei nie um Liebe gegangen. Aber sie hatten ein Gefühl von Gemeinschaft erlebt.« Dann gab es einen Bruch, als Torkel eine »ernsthafte Beziehung« wünschte. Das »war nicht mit ihrem Charakter und ihren Vorstellungen vereinbar«. Jetzt allerdings überkommen sie gerade wieder »Phantasien«. Also würde sie Torkel am Morgen »berühren, die Initiative ergreifen, … ihm eine ganz neue Seite von sich zeigen, … ihn verführen«.
Billy mag es gern gewalttätig. Schon in seiner Hochzeitsnacht ist er fremdgegangen; um sich sexuelle Befriedigung zu verschaffen, erdrosselte er eine Katze.
Ob so etwas bei der Fangemeinde als besonders cool, trashy oder amüsant aufgenommen wird? Soll uns das ein Zerrbild unserer verkommenen Gesellschaft vor Augen führen? Muss man erst Bände 1 bis 4 lesen, um zu begreifen? Habe ich ein Ironiesignal übersehen? Muss ich meine Qualitätskriterien neu justieren? Jedenfalls kann ich diesem Buch kaum gute Seiten abgewinnen. Spannung wollte einfach nicht aufkommen. Die Autoren treiben die Krimihandlung lieblos wie als Nebensache voran, das Beziehungsgedöns ist allzu abstrus, die Figurenzeichnung wirkt lustlos, oberflächlich aufs Papier geworfen. Es fehlt mir an psychologischer Tiefe und Weiterentwicklung, an Perspektiven über den Tellerrand der Egomanen hinaus. Nicht einmal den psychologischen Clou, den Sebastian aus seiner Trickkiste holt, um den Mörder aus der Reserve zu locken, finde ich überzeugend.
Dabei steht außer Zweifel, dass beide Autoren vielseitige, anerkannt gute Medienprofis sind. Michael Hjorth hat zum Beispiel Drehbücher für die Verfilmungen von Henning Mankells Wallander-Romanen verfasst, Hans Rosenfeldt schrieb das Drehbuch für »Die Brücke – Transit in den Tod«. Auch die Sebastian-Bergman-Reihe, in über dreißig Länder exportiert und wochenlang in den Bestsellerlisten, wird unter Beteiligung des ZDF verfilmt.
Aber »Die Menschen, die es nicht verdienen« (»De Underkända«, übersetzt von Ursel Allenstein) ist bestimmt nicht ihr Meisterwerk. Wer weiß, was Cato der Ältere Hjorth & Rosenfeldt für Fragen stellen würde, wenn er sie in seine Gewalt bekäme ...