Rezension zu »Ihr Königreich« von Jo Nesbø

Ihr Königreich

von


Die Beziehung zwischen zwei ungleichen Brüdern wandelt sich. Hat Roy den jüngeren Carl in der Jugend stets beschützt und aus mancher Not herausgehauen, stehen sie sich nach Carls Rückkehr in sein Heimatdorf als Rivalen gegenüber. Und längst vergessen geglaubte Unglücksfälle drängen wieder ans Tageslicht.
Kriminalroman · Ullstein · · 592 S. · ISBN 9783550050749
Sprache: de · Herkunft: no

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Eine Familie am Abgrund

Rezension vom 14.02.2021 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Der Bauernhof der vierköpfigen Familie Opgard liegt auf einer Berghöhe in der Nähe des norwegi­schen Dorfes Os. Wer hinauf oder ins Tal hinab möchte, muss auf einer Strecke mit zahl­reichen Haar­nadel­kurven an einem Abgrund entlang fahren. Wie ein schwarzes Loch scheint die Tiefe immer wieder Menschen und Autos zu ver­schlingen, die der Gefahr zu nahe kommen oder unachtsam sind. Das symbol­starke Verhäng­nis ereilt nicht zuletzt die Eltern Opgard selber.

Der abgelegene Ort ist Schauplatz eines Familiendramas. Anders als wir es vom Autor dieses Romans kennen, sind es nicht körper­liche Grausam­keiten, die die Handlung prägen, sondern die Psycho­logie, die Einfluss­nahme der Charak­tere aufein­ander, das Spiel um Unter­werfung, Ausbeu­tung, Dominanz, um Stärke und Schwäche. Die Wurzeln sind in der Philo­sophie zu finden, auf die Raymond Opgard seine beiden Söhne von Jugend an ein­schwört: »Wir sind eine Familie. Wir haben einander und sonst niemanden. Freunde, Geliebte, Nachbarn, die Dorfbe­wohner und Lands­leute, alles Illusion. Wenn es eines Tages wirklich darauf ankommt, sind sie nichts wert. Dann heißt es, wir gegen sie […]. Wir gegen alle anderen.«

Roy, der Ich-Erzähler, ist der ein Jahr ältere und der härtere der beiden Brüder, die im sonder­baren Mikro­kosmos dieser Familie auf dem wenig ertrag­reichen Bauernhof aufwach­sen. Bei einem Onkel macht der wortkarge, introver­tierte, argwöh­nische junge Mann eine Lehre als Auto­mechani­ker.

Ganz anders Wesensart und Leben seines Bruders Carl. Der oberfläch­liche Luftikus, »ein Optimist, der mehr versprach, als er halten konnte«, mischt auf Dorf­festen gern die Damenwelt auf, verlobt sich mit der Tochter des Bürger­meisters – und beginnt gleich­zeitig ein Techtel­mechtel mit deren bester Freundin. Manche Eifer­süch­telei, die auf Carls Konto geht, muss der robus­tere große Bruder für ihn mit Faust­schlägen aus der Welt schaffen.

Roys dominante Rolle entschied sich in einer zentralen Episode ihrer Jugend. Da verletzte Carl den Jagdhund, den der Vater über alles liebte, mit der Flinte, schaffte es aber nicht, das Tier mit dem Messer von seinen Sterbens­qualen zu erlösen. Das übernahm Roy und wurde so zum Ausputzer in chaoti­schen Notlagen, zum Lenker und Beschüt­zer seines Bruders. Doch er erfand auch das Bild von Carl als mutigem, verant­wortungs­vollem, entschei­dungs­starkem Sohn, das den Vater beein­druckte und stolz machte: »zwei Söhne, die sich heute als Männer bewiesen haben.«

Nach dem Unfalltod der Eltern trennen sich die Wege der beiden unglei­chen Brüder. Carl geht in die USA, um zu studieren, wird weiterhin von Frauen um­schwärmt, wandelt sich zum Dandy und macht große Geschäfte als Investor. Roy pachtet eine Tank­stelle mit kleiner Auto­werk­statt. Völlig allein lebt er als Erwach­sener noch immer auf dem elter­lichen Hof.

Zwei Jahrzehnte später fährt dort ein schwerer Cadillac DeVille vor, wie ihn auch Vater Raymond Opgard gefahren hatte. Ihm entstei­gen der hoch­gewach­sene Carl sowie seine Ehefrau, die karibi­sche Schönheit Shannon Alleyne. Der Finanz­guru und die Archi­tektin haben mehr im Gepäck als nur die Kleidung für eine Stipp­visite in der Heimat. Sie möchten die öde Berg­region in eine grandiose Zukunft führen und ver­sprechen der kleinen Dorf­gemein­schaft Wohlstand und Sicher­heit. Wir wittern von Anfang an, dass Carls gigan­tische Pläne wohl kaum uneigen­nützig sein werden, doch die von Natur aus eigent­lich zurück­halten­den Hinter­wäldler sind beein­druckt. Nach und nach ent­wickelt der Autor, indem die Erzählung zwischen den verschie­denen Zeit­phasen hin und her springt, die Hinter­gründe aus Carls Jahren in Amerika.

Verdachtsmomente gibt es zuhauf in diesem Roman. Schon der Tod der Opgard-Eltern lässt dem Dorf­polizis­ten Sigmund Olsen keine Ruhe. Er befragt Carl und besich­tigt den Unfallort, muss für seine kritische Neugier aber teuer bezahlen. Erst im Rückblick erfahren wir das gesamte Ausmaß der düsteren Familien­tragödie, die auf dem Hof lastet, das gesamte Leben der Betrof­fenen über­schattet und manche ihrer Entschei­dungen bestimmt.

Der norwegische Bestsellerautor Jo Nesbø hat sich als Garant für spannende Kriminal­romane etabliert. Die Reihe mit dem alkohol­kranken Haupt­kommis­sar Harry Hole schockte zudem durch ein gerüttelt Maß an Bruta­lität. Der neueste Titel »Kongeriket« (kein »Harry Hole-Band«, aber eben­falls von Nesbø-Stamm­über­setzer Günther Frauenlob übersetzt) weicht inhalt­lich und im Spannungs­aufbau deutlich von der Kultserie ab. Er ist weniger als Krimi konzi­piert denn als Psycho­studie über die beiden ambi­valenten Protago­nisten. Roy ist im Grunde der aufrich­tigere Mensch. Er setzt sich für seine Mitar­beiter ein, kämpft gegen Unge­rechtig­keiten, sehnt sich nach Gebor­genheit und Liebe. Aber ihn belastet und über­fordert die ihm zuge­fallene Aufgabe, seinen jüngeren Bruder zu beschüt­zen. Um ihr gerecht zu werden, lädt er immer mehr Frag­würdi­ges auf sich und kann sein Urteil, versagt zu haben, trotzdem nicht abmildern. Perma­nente Gefühle von Schuld und Scham sind die quälende Folge.

Am Ende des Romans bleibt dennoch nur wenig Nachhall. Zu komplex ist die Erzähl­struktur mit ihren veräs­telten Haupt- und zahl­reichen Neben­strängen (von denen etliche kaum Erkenntnis­gewinn bringen), zu groß die Zahl der Personen (viele nicht bedeut­samer als die Gesichter auf Werbe­plakaten am Wegesrand), zu klein­schrittig die unzäh­ligen Verstri­ckungen, Verwick­lungen, Wendun­gen und Turbu­lenzen des Gesche­hens. Aber »Ihr König­reich« ist allemal ein guter Unter­haltungs­roman – ein anderer, ein leiserer Jo Nesbø.


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