Der lange Atem der Geschichte
Wilhelmine Hennemann lebt in einem Vorort Frankfurts. Als die trotz ihrer 91 Lebensjahre rüstige Dame im Herbst die Dachrinne säubern will, fällt sie so unglücklich von der Leiter, dass sie zu einem Pflegefall wird. Nie hatte sie jemandem zur Last fallen wollen, und doch ist sie jetzt auf die Hilfe ihrer Nichte Karin angewiesen, aus deren Verhalten und Sprachnuancen sie erspürt, dass sie diese leidige Pflicht lieblos und ohne Engagement erfüllt. In ihrem Bett gefangen, will Wilhelmine nicht in ihre Windel machen, und als sie es nicht mehr halten kann, fühlt sie die beißende Erkenntnis in sich aufsteigen: "Wenn die Würde verloren geht, bleibt nichts als Scham und Abscheu vor dem eigenen Körper, Wut und die grenzenlose Hoffnung, dass es endlich vorbei ist." Diese erschütternde Wahrheit trifft mitten ins Herz aller alten Menschen, die wie Wilhelmine bei wachem Verstand erleben, wie sie zu hilflosen Säuglingen werden.
Karin entledigt sich ihrer Last, indem sie als Rundum-Betreuerin illegal ein russisches Mädchen einstellt – Jelisaweta, 23, die in ihrem Heimatort in einem Krankenhaus arbeitet.
Diesen Weg, den Pflegenotstand in Deutschland finanzierbar und für alle Beteiligten erträglicher zu gestalten, wählen mittlerweile viele Familien, und so ist das sicher eine interessante sozialpolitische Thematik für einen Roman. Doch in "Magnolienschlaf" spielt diese Problematik keineswegs die zentrale Rolle.
Eva Baronsky hat ein literarisch-poetisches Melodram geschaffen, das zwei Menschen unterschiedlicher Generationen aus zwei Ländern, die einst erbitterte Kriegsgegner waren, zusammenführt. Da die Handlung nahezu ausschließlich in Wilhelmines Haus spielt, ist es zu einer Art Kammerspiel für zwei Protagonisten geworden.
Sechzig Jahre lang haben Wilhelmines Erinnerungen an ihre traumatische Kriegszeit in Russland geschlummert, doch als Jelisaweta, auch Lisa genannt, auf Russisch mit ihrer Mutter zu Hause telefoniert, bricht alles Aufgestaute und aller Hass wie ein Vulkan aus.
Die einfühlsame Lisa, die fließend Deutsch spricht, begreift überhaupt nicht, warum aus der bisher sympathischen alten Dame eine Furie wird, die sie bespuckt, mit Schimpfworten beleidigt und verletzt, Dinge nach ihr wirft und ihr Essen nicht nur verweigert, sondern auf den Boden kippt.
Aber Lisa hat ihre eigene Art sich zu wehren. Bald tobt ein erbitterter Zweikampf. Während Eva Baronsky die Dynamik des Psychoterrors steigert, verlieren sich beide mehr und mehr in ihren Erinnerungen an längst vergangene Zeiten kurz vor dem deutsch-russischen Kriegsende. Wilhelmines Gedanken bergen ein schauderhaftes, schmerzvolles Geheimnis; Lisas Gedanken kreisen um ihre Mama und die vielen Andeutungen und ängstigenden Geschichten, die sie von ihrer Babka hörte. Erst wenn der Roman zu Ende geht, werden die belastenden Geschehnisse enthüllt, wobei die Autorin sowohl Lisa als auch den Leser (die beide Wilhelmines Trauma zu kennen glauben) mit einem ganz unerwarteten Ende überrascht.
Eva Baronskys lässt zwei glaubwürdige, gleich starke Figuren entstehen, die der jeweiligen Situation angepasst mal empfindsam, mal aggressiv zu reagieren in der Lage sind. Was so weh tut, ist, dass beide Charaktere im Innersten voller Liebe stecken und einander ihre seelischen Qualen hätten erleichtern können – hätte nicht der unselige Krieg die Menschen auf Jahrzehnte hinaus entzweit. Selbst sechzig Jahre nach Kriegsende und zwei Generationen später hat die gegenseitige Schuld noch Spuren in Lisas Seele hinterlassen. Wann werden die Wunden endlich verheilen?
P.S.: Eva Baronsky erhielt für ihren ersten Roman "Herr Mozart wacht auf" 2010 den Friedrich-Hölderlin-Preis.