Rezension zu »Ich bleibe hier« von Marco Balzano

Ich bleibe hier

von


In der bewegten Geschichte Südtirols zwischen den Dreißigerjahren und 1950 wird die Bevölkerung in verfeindete Lager gespalten. Die Familie von Trina und Erich durchleidet das gesamte vielschichtige Drama. Über allem droht das Damoklesschwert des Staudammprojekts von Reschen, das ihre Heimat auch physisch vernichten wird.
Belletristik · Diogenes · · 288 S. · ISBN 9783257071214
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Südtirol

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Lauter verlorene Schlachten

Rezension vom 28.07.2020 · 26 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

An diesem Kirchturm fährt keiner vorbei, ohne anzuhalten und ein paar Fotos zu machen. Nicht seine schlichte Archi­tektur noch sein Alter (fast sieben Jahrhun­derte) lässt die Touristen auf die Bremse treten, sondern seine frappie­rende Unvoll­ständig­keit. Nicht weit vom Ufer des Reschen­sees ragt nur seine obere Hälfte mit dem simplen Spitz­pyramiden­dach aus dem Wasser. Ihm fehlt ein Funda­ment, ein Portal, seine Kirche.

Das Wasser hat ihm auch seinen Gottes­acker genommen, das Dorf, dessen Mittel­punkt er war, die Äcker, Weiden, Wälder und das ganze grüne Tal, das er über­ragte. So treibt er jetzt einsam und verlassen auf der riesigen Wasser­ebene, ein maleri­scher und ›deprimie­render Anblick. Ein Schau­kasten infor­miert die Besucher, was es mit dem wunder­lichen Bauwerk auf sich hat.

Originalausgabe:
»Resto qui«
(2018, Verlag Einaudi)
Marco Balzano: »Resto qui« auf Bücher Rezensionen
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Umfassender und ergreifender, als ein Schaukasten das vermag, hat der Mailänder Autor Marco Balzanodie Hinter­gründe beschrie­ben, die mit der Schaffung des Stausees im Vinschgau verbunden waren. Das Titelbild zeigt den berühm­ten halben Kirchturm, aber der Roman setzt andere Schwer­punkte. »Ich bleibe hier« (Maja Pflug hat »Resto qui« ins Deutsche übersetzt) erzählt im Grunde die Geschichte Süd­tirols, wie sie die Familie der Ich-Erzäh­lerin Trina schmerz­voll erlebt hat. Der Turm ohne Unterleib steht darüber wie ein Symbol.

Trinas Geburtsort ist das Bauerndorf Graun. Italie­nisch sprach damals niemand in Südtirol – es gehörte bis 1918 zu Öster­reich. Ihr Vater betreibt eine Tisch­lerei in Reschen, die Mutter führt den Hof. Sie ist eine kantige Frau mit einfachen Ansichten und raschem Urteil. Das Leben ist für sie ein Kampf, für Emotio­nen und Räson­nieren ist da kein Platz. Trina scheint zu ihrem Ärgernis aus der Art geschla­gen, denn das Mädchen liest wie besessen, ist wissbe­gierig und nachdenk­lich. Die Sprache, glaubt sie, sei das mäch­tigste Werkzeug für eine Frau: »Ich glaubte, sie könnten mich retten, die Wörter.« Zu Mutters Leidwesen lernt sie Italie­nisch, steckt sogar ihre Freun­dinnen Maja und Barbara an mitzu­machen, damit sie alle drei einmal Lehrerin­nen werden.

Der Wunsch erfüllt sich anders als erwartet, denn nach dem 1. Weltkrieg wird Südtirol von Italien annek­tiert. Um die wider­spens­tige deutsch­spra­chige Provinz zu italiani­sieren, fördert die Regie­rung in Rom (ab 1924 unter Musso­lini) die Indus­triali­sierung der Städte, die Zuwande­rung italieni­scher Arbeiter und Beamter aus dem Süden, verordnet das Italieni­sche als Amts­sprache, übersetzt alle geographi­schen Bezeichun­gen, verbietet die deutsche Sprache. Aus Graun wird Curon, aus Reschen Resia, aus der Etsch der Adige, aus dem Vinschgau das Val Venosta, aus Südtirol Alto Adige. In den Schulen unterrich­ten nun Lehr­kräfte aus dem Süden, die die Sprache ihrer Schüler nicht verstehen, und die Kinder verstehen die ihrer Lehrer nicht. Süd­tirolerin­nen wie Trina, Maja und Barbara haben keine Chance, eine Stelle zu bekommen.

Assimiliert werden die Südtiroler durch diesen Druck nicht. Sie sprechen weiter Deutsch und organi­sieren für ihre Kinder heim­lichen Deutsch­unter­richt. Obwohl dafür Verschlep­pung und Haft droht, engagie­ren sich Trina und ihre Freundin­nen hier – und zahlen einen hohen Preis. Am Tag, als Trina ihren seit Langem verehrten Erich Hauser heiratet, wird Barbara von den Carabi­nieri abgeholt.

Waren sich die Südtiroler im Kampf gegen die Italiani­sierung noch einig, so bringt das Hitler-Musso­lini-Abkom­men 1939 eine tiefgrei­fende Spaltung bis in die Familien hinein. Denn jede Familie muss sich nun entschei­den, ob sie alles hinter sich lassen und nach Deutsch­land umsie­deln (»Optanten«) oder auf ihrem Besitz bleiben und damit die Zuge­hörig­keit zu Italien hinneh­men will (»Restanten«).

Egal wie die Wahl ausfällt, man hat fortan die anderen zu erbitter­ten Feinden. Während eine große Mehrheit aus­zuwan­dern beschließt, kommt die Option für Erich, einen starken, eigensin­nigen, eher schweig­samen Mann, nicht in Frage, er würde niemals seine Heimat aufgeben. Aber seine Schwester und ihr Mann machen sich eines Nachts klamm­heim­lich auf den Weg »heim ins Reich«. Trinas und Erichs Tochter Marica, um die sie sich liebe­voll geküm­mert hatten, wenn die beiden in der Schrei­nerei oder auf dem Hof arbei­teten, nehmen sie mit. Den abschieds­losen Verlust ihrer Tochter verwindet Trina nie. Für sie schreibt sie die Familien­geschich­te auf.

»Es schien, als käme die Geschichte nicht bis hier herauf.« An so einen Berg­frieden konnte man viel­leicht zu Zeiten der Öster­reicher noch glauben. Doch schon um 1911 ahnen die Vinsch­gauer, dass ihr Heimat­tal nicht nur durch die inter­natio­nale Politik, sondern auch durch den techni­schen Fort­schritt bedroht werde. Man munkelt, die Kraft der Etsch­zuflüsse solle genutzt werden. Nach dem Krieg ent­wickeln die Italiener Pläne, den Reschen­see um fünf Meter aufzu­stauen. Doch erst ab 1937 werden konkrete Projekte in Angriff genom­men, über die die Bevölke­rung aller­dings durch eine infame Infor­mationspo­litik im Unklaren belassen wird. Nach Beginn der Baumaß­nahmen wird 1939 scheibchen­weise bekannt, dass der Wasser­spiegel um 22 Meter erhöht, somit das ganze Tal über­flutet und Acker­bau und Viehwirt­schaft, seit Jahr­hunder­ten Existenz­grund­lage der Menschen, unmög­lich werden würde.

Das ominöse Staudammprojekt wirbelt die große Politik in die Köpfe der Menschen. »Die Faschis­ten haben größtes Interesse daran, unsere Gemein­schaft zu zer­schlagen und über ganz Italien zu ver­streuen.« Hitler-Deutsch­land erscheint vielen als natür­licher Verbün­deter, als ersehn­ter Erlöser von italieni­scher Unter­drückung. Wenn Südtirol deutsch würde wie Öster­reich, würde Hitler dem Volk niemals seinen Boden wegneh­men lassen. Der Kriegs­eintritt Italiens im Juni 1940 bringt eine Atempause: »Jetzt werden sie wenigs­tens mit dieser Geschichte vom Stau­damm aufhören … Jetzt müssen sie an andere Dinge denken.« Die Damm­arbeiten ruhen.

Als nach Mussolinis Sturz 1943 die Deutschen einmar­schie­ren, jubeln viele. Aber Trina und Erich (»Wir sind weder Nazis noch Faschis­ten!«) fliehen mit Deser­teuren und Partisa­nen für über ein Jahr ins eisige Hochge­birge, um der all­gemei­nen Wehr­pflicht zu entgehen. Nach Kriegs­ende kehren viele »Optanten« desillusio­niert zurück, doch auf ihren Höfen leben jetzt Italiener, und die frühe­ren Nachbarn beschimp­fen sie als Nazis.

Die neue italienische Republik setzt auf Indus­trialisie­rung und fädelt einen Deal mit Schweizer Inves­toren ein, um den Staudamm nun endlich fertigzu­stellen. Die Methoden ändern sich nicht. Wer sich nicht auf Ent­schädi­gungs­verspre­chen einlässt (die Zahlungen werden lächer­lich niedrig ausfallen), wird in Baracken­siedlun­gen umgesie­delt. Massen süd­italieni­scher Arbeiter treffen ein. 1950 ist der Damm fertig, alle Häuser – außer dem Kirchturm von Graun/Curon – sind abge­rissen, der Wasser­spiegel steigt und steigt.

Erstaunlich, dass der Widerstand gegen den Staudamm erst an Kraft gewinnt, als es längst zu spät ist. Jahrelang hatte Erich seine Lands­leute vor den Planungen und dem drohenden Existenz­verlust gewarnt, an ihre Heimat­liebe appel­liert, Inge­nieure zur Rede gestellt, Versamm­lungen organi­siert, von Trina formu­lierte Flugblät­ter verteilt und Eingaben verschickt, doch Solida­rität konnte er nicht schaffen. Er wird als Queru­lant angesehen, der Damm werde schon keinen Schaden anrich­ten. »Was sie nicht sehen, gibt es nicht«, sagt Erich über seine trägen Mitbür­ger. Die Geist­lich­keit zuckt mit den Schultern und mahnt zur Besonnen­heit ange­sichts eines übermäch­tigen Gegners, nur Pfarrer Alfred kämpft ent­schlossen an Erichs Seite. Erst 1947 – die Bauar­beiten sind bereits weit fort­geschrit­ten – ist die Wut groß genug für organi­sierte Aktio­nen. Man schreibt an hochran­gige Politiker in Rom, erhält eine Audienz bei Papst Pius XII., doch ändern wird sich nichts mehr. »Wenn ihr euch nicht mit der Politik beschäf­tigt, beschäf­tigt sich die Politik mit euch« – was Barbaras Vater den Mädchen einge­bläut hatte, bewahr­heitet sich.

Die Geschichte ihrer Familie, ihrer Freunde, des Dorfes, des Tales und Süd­tirols – all diese dramati­schen Ereig­nisse erzählt Trina im sach­lichen Ton einer Chronik. Ihre Aus­drucks­weise ist schmuck­los, die Sätze sind kurz; allen­falls klingt etwas Pathos an. Der Autor (der selbst am Schau­kasten für den Stoff motiviert wurde) hat aufwän­dig recher­chiert und führt die Handlung sehr nah an der histori­schen Realität entlang, stets aus der Perspek­tive der Ein­heimi­schen. Aus deren Sicht kommen die Italiener schlecht weg – die Politiker ohnehin, aber die zu Tausenden herange­karrten armen Bau­arbeiter auf andere Weise: »Halunken«, »halbe Analpha­beten aus Sizilien und dem länd­lichen Venetien«, »mit stumpf­sinnigen Gesich­tern« und »erlosche­nen Augen«, »noch viehi­scher als unsere Bauern«.

Dass Balzano (ein geborener Sizilianer) diese Sicht­weise unver­blümt abbildet, ist bemer­kens­wert, denn die meisten Italiener sehen ihre Ver­gangen­heit vor und während des Faschis­mus noch immer unkri­tisch. So ist das Verhält­nis altein­gesesse­ner Südti­roler zu Italien trotz erheb­licher Zuge­ständ­nisse Roms an die auto­nome Region Trentino-Alto Adige bis heute ange­spannt. Vor allem dort wurde das Buch ein Best­seller, weiter im Süden stieß es auf gerin­geres Interesse, aber im Juli 2018 wurde es als zweiter Sieger des Premio Strega 2018 nominiert. Wäre Marco Balzano Erster geworden, wäre er der erste und einzige Autor dieses seit 1947 verge­benen Preises, der ihn zwei Mal erhielt, denn bereits 2014 war er mit »L’ultimo arrivato (Das Leben wartet nicht)« [› Rezension] Strega-Sieger geworden.

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• Francesca Melandri: »Eva schläft«
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