Auch Hector in der Midlife-Crisis
Warum sollte es einem langjährigen Psychiater besser gehen als seinen Patienten? Der Mitfünfziger spürt die Jahre in den Knochen, Zipperlein setzen ihm zu. Auch seine Umwelt nimmt ihn anders wahr als früher. Jungen Kollegen fällt es schwer, den Mann zu duzen. Aber ist er deshalb ›alt‹? Wie mit seinem Alter, so hadert er mit seinem Beruf, seiner Partnerschaft, seinem Leben überhaupt. Ob er will oder nicht, Hector ist in eine Midlife-Crisis geschliddert.
Allerdings lehnt er vehement ab, darauf klischeehaft zu reagieren. Neuer Job, junge Freundin, dickes Auto – das sind keine Optionen für ihn. Denn erstens erfüllt ihn sein Beruf, zweitens ist er glücklich mit seiner geliebten Ehefrau Clara, intelligent und einfühlsam, und drittens haben die beiden ein gutes Auskommen und ein sorgenfreies Leben. Wozu also Änderungen herbeiführen?
Unter seinen Patienten grassiert die Midlife-Crisis derzeit wie eine Epidemie, und Hector weiß sie geschickt zu therapieren, wenn eine vage Sehnsucht sie quält: »Doktor, ich würde so gern ein anderes Leben haben!« Dann geleitet Hector sie mit seinen indirekten Fragetechniken an die Wurzeln ihrer seelischen Belastung, lässt sie selbst Erkenntnisse entwickeln, bis sie ihre Lebenssituation erfassen und verändern, womöglich Beruf, Partner und Wohnort wechseln.
Nur sich selber kann Hector keine Linderung verschaffen. Dass seine Arbeit ihn stresst, seine Nerven täglich angespannter sind, verschleiert und verleugnet er vor sich selbst. Seiner liebsten Clara freilich entgeht sein Seelenzustand nicht. Lange hat sie sich mit Bemerkungen zurückgehalten, doch nun muss es auf den Tisch: Hector sei reizbar, angespannt, erzähle nichts mehr, höre nicht mehr richtig zu, und – was ihn am meisten trifft – »Wir tun so, als ob wir uns liebten ...«
Da begibt sich Hector in eine »Therapie à la française«. In Fachbüchern nicht erfasst, sieht diese Behandlungsform so aus: Der Patient erschließt sich dem älteren Psychoanalytiker-Kollegen und guten Freund François (bei einem direkten Schüler Freuds ausgebildet) in der Brasserie des Luxushotels Lutetia. Bei Austern der Sorte »Fines de Claire Nr. 3« und einem feinen Tröpfchen weißen Sancerres geht es medias in res. Die Diagnose ist einfach und steht schnell: »berufliches Burn-out« mit »Leeres-Nest-Syndrom«. Hector habe im Beruf eine Phase erreicht, in der nichts Neues geschehe und nichts Neues zu erwarten sei. Der Stillstand mache ihn zornig. Kurzum: »eine hübsche kleine Midlife-Crisis«. Wenn er so weitermache wie bisher, befürchtet Hector, könnten die Sicherungen durchbrennen. François regt an, man solle sich regelmäßig treffen. Hector möge, genau wie er es auch seinen Patienten empfiehlt, eine kleine Liste erstellen, was er sich von einem neuen Leben erhoffe. Ob man noch eine Nachspeise goutieren sollte? Der Blick in die Karte wird jäh unterbrochen, als François' Enkelin Ophélie den Raum betritt. Gestaltet »wie ein Engel von Botticelli«, zieht sie Hectors Blicke magisch an. So rundet ein weiterer Genussfaktor die »Therapie à la française« ab.
Man ahnt, was kommen wird. Hector erliegt dem Zauber der jungen Frau und beginnt eine heimliche Affäre. Ob dieser Jungbrunnen dem Mann frische Kraft einflößt, er sein Leben umkrempelt, für Ophélie womöglich alles Bisherige aufgibt, das wird hier nicht verraten.
François Lelords reizende kleine Geschichten mit dem sympathischen Protagonisten Hector haben den beiden eine treue Leserschaft beschert. Die intelligenten Erzählungen voller gut nachvollziehbarer, praktischer Lebensweisheiten um Freundschaft, Glück und Zufriedenheit bringen erbauliche, beglückende Leseerfahrungen. »Hector veut changer de vie« (übersetzt von Ralf Pannowitsch) ist der sechste Teil der Serie, und wie seine Vorläufer steht er unter einem Thema, zu dem der Autor eine Menge sorgfältiger psychologischer Erläuterungen einflicht – eben der Problematik des Umgangs mit der Leere und Unzufriedenheit, die viele Menschen befällt, wenn sie die Lebensmitte erreichen. Im Gegensatz zu den meisten, die in der rauen Wirklichkeit mit diesem Problem fertig werden müssen, kann sich Hector freilich jedes Experiment erlauben, auch das, sich auf eine Geliebte einzulassen. Welchen Weg er auch einschlägt, wohin er ihn auch führen mag, in seiner luxuriös abgesicherten sozialen Lage (seine Praxis ist voll, und Clara bekleidet eine Führungsposition in einem weltweit agierenden Konzern) wird er stets wieder auf weichen Daunen landen. Das macht den siebten Hector-Roman – zusammen mit der außergewöhnlichen mentalen Festigkeit des Protagonisten und leisem, hintergründigem Humor – zu einer angenehmen Lektüre, beeinträchtigt aber auch seine thematische Relevanz. Bei kritischer Betrachtung vermag Lelord kaum mehr als nette, unverbindliche Unterhaltung zu bieten, und manche Weisheiten sind schlicht banal: »Wenn Sie Ihre Träume wahr machen wollen, sollten Sie das mit dem allergrößten Ernst tun.«