Ruhige Kugel oder Flummi?
Zugeben würde er das wohl nie. Aber nun ist er endlich da angelangt, wo er sich wohl fühlt, wo er zu sich selber finden kann. Nachdem ihn diverse Mordfälle psychisch ins Straucheln gebracht hatten, wurde er aufs »Abstellgleis« ins Niemandsland geschoben. Und so schiebt Major Johannes Schäfer, ehemals Gruppenleiter bei der Mordkommission Wien, jetzt seinen geruhsamen Dienst in der Polizeikommandantur von Schaching, einem Wiener Außenbezirk.
Wer von uns kennt sie nicht, »die beschissene Schwermut beim Aufstehen«, die auch Schäfer allmorgendlich überwinden muss? Also raus aus der Kiste! Dann dreht er seine Runde durch Feld, Wald und Flur und nimmt die ihm anbefohlenen Schäflein mit süffisant-kritischer Arroganz in Augenschein, bis ihm schon mal die Galle hoch kommt, etwa wenn sich die hysterischen Bewohner von Einfamilienhäusern, »die sich gerade noch nicht Villen nennen durften«, über ein angeblich verdächtiges Subjekt beschweren – in Wirklichkeit einen harmlosen verwahrlosten Herumtreiber … Mehr als einen »Hüter der Lebensqualität« wird Schäfer in diesem Kaff der »Idealwelt« wohl nie darstellen; mehr als Kleinkram wird er nicht zu regeln haben. Ein schwacher Trost, dass er noch im »Ranking der abgedrehtesten Bullen des Landes« geführt ist und sogar auf den vorderen Plätzen mitmischt …
Gut, dass er seine Aggressionen meist zu steuern weiß. Wichtiges Utensil zu diesem Zweck ist ein Flummi, »durchsichtig, mit türkisen und azurblauen Schlieren durchzogen, dazwischen glitzernde Metallpartikel«, den er »im Zuge einer belanglosen Amtshandlung erstanden«, soll heißen, aus einem völlig demolierten, verrosteten Kaugummiautomaten gezogen hatte. Wenn ihn in seinem frisch umgestalteten, perfekt durchdachten, durch Glastrennscheiben licht und transparent gestylten Büro (jeder kann jeden jederzeit beobachten) die innere Not überkommt, knallt er das Gummibällchen gegen die Vollverglasung: »Gib’s ihr! … mach sie fertig!«
Kürzlich ist es allerdings mit Schäfer durchgegangen. Schauplatz des Einsatzes war eine ehemalige Kleingartensiedlung, die durch stetige individuelle Zubauten in »halblegaler Bauweise« zu einem kleinen Legoland mutiert ist. Nicht alle Auswüchse von Freiheit, die sich hier jeder herausnimmt, sind dem Anrainer genehm. Da wollte zum Beispiel ein Parzelleneigner einen Verschlag zur Garage umbauen, hatte dafür auch eine Zusage (per Handschlag) vom Amt; allein dem Nachbarn war’s nicht recht. Die Sache kulminierte, zwei Schüsse wurden aus dem Fenster geballert, die Polizei gerufen, und »jetzt müssen Taten folgen«. Schäfer folgt dem Ruf zu Thujen und Maschendraht und handelt: Aus einem liebevoll gestalteten Gesamtbild von Gartenzwergen in »Bergwerksmontur«, die einen »durchsichtigen Sarg« zu Grabe tragen, entsorgt er zwei besonders scheußliche Kerle durch punktgenauen Schuss aus der Dienstwaffe.
Neben dem amüsanten Lokalkolorit muss nun aber auch ein bisschen Krimihandlung her! Zu diesem Zwecke legt Autor Georg Haderer folgenden Plot bei:
Yvonne Raab ist siebzehn Jahre alt und führt ein beneidenswert sorgenfreies Leben – keine Probleme im Elternhaus, keine in der Schule, keine im Freundeskreis. Warum hat sie sich dann auf die Gleise gesetzt und sich von der Eisenbahn überrollen lassen? Während Schäfer seine Vermutungen über Yvonnes sinnlosen Freitod anstellt, landen noch zwei weitere ungeklärte Selbstmorde auf seinem Schreibtisch – und legen den Verdacht nahe, dass es sich wohl eher um eine Serie von Gewalttaten handelt als um Selbsttötungen. Denn am 1.1. nach 1.00 Uhr ist ein Mädchen in die Donau gegangen, am 4.4. kurz nach 4.00 Uhr sprang ein anderes von einer Autobahnbrücke, und Yvonnes Regionalzug kam am 6.6. um 6.00 Uhr. Würde ich jetzt noch ein paar Details verraten, fiele Ihnen die Auflösung des Rätsels ebenso leicht wie dem Schachinger Chefermittler.
Wenn Sie Georg Haderers neuen Österreichkrimi »Es wird Tote geben« lesen, wird Ihnen der Kriminalfall nicht den Schlaf rauben. Des Autors Stärke liegt weniger im Entwickeln eines diffusen, kniffligen Verbrechens; vielmehr es sind seine Protagonisten, die ihm am Herzen liegen. Und Major Johannes Schäfer stiehlt allen die Show. In den voraufgegangenen Romanen haben ihn die Umstände und die Antidepressiva ins Surreale abdriften lassen; inzwischen aber ist er klar fassbar und sehr menschlich geworden. Schaching hat ihn bodenständig gemacht, und deftige Worte gehen ihm noch immer locker über die Lippen.
Er wohnt jetzt in der Waldhütte vom Chefinspektor Stark, der sich nach Barbados abgesetzt hat, und hat sich da schludrig, aber gemütlich eingerichtet. Einsam ist er nicht. Zum Beispiel beobachtet er mit einem Flascherl Wein, Genugtuung und Mitleid für den Schwächeren das seltsame Paarungsverhalten eines Raben und einer Katze. Auch mit seinen Exkollegen aus Wien hält er regelmäßigen Kontakt. Bald sind zwei mit dem Radl da, und alle zusammen genießen einen herrlichen Abend mit großer Sause am Lagerfeuer. Dann folgt Nichte Lisa mit Freund Martin der herzlichen Einladung. Dass sie des Onkels Bude kräftig putzen und Martin anschließend ein Festmahl kocht, wäre doch wirklich nicht nötig gewesen. Zum guten Schluss raucht man einen entspannenden Joint. Schäfer mag ja Gesetzeshüter sein, aber ein Korinthenkacker ist er noch lange nicht!
Bei seinen Spaziergängen im Wald begegnet Schäfer in schöner Regelmäßigkeit Frau Materna, der »Nachtigall des Kirchenchors«; fortwährend stochert sie im Laub herum und ruft dabei nach ihrem »Sascha« … So hübsch diese skurrilen Episoden und Motive sind: ganz ungetrübt bleibt das Lesevergnügen dennoch nicht. Dass sich eine gesuchte Leiche ausgerechnet unter dem frisch gegossenen Betonboden von Schäfers Häuschen befindet, ist eine Lösung, die derart an den Haaren herbeigezogen ist, dass auch des Lesers Skalp brennt. Überhaupt scheint mir der gesamte Handlungsstrang um den Kollegen, der sich auf Barbados im Sand lümmelt, bis an die Schmerzgrenze zurechtgebogen. Wenn dann noch ein deutsches Filmteam auftritt, ist der Bogen überspannt, und das amüsierte Lächeln im Gesicht des Lesers weicht einem resignierten Stoßseufzer …
Kultpotenzial haben sie schon, der unkonventionelle Schäfer und sein neues Team in ihrer schrägen Vorstadtidylle. Die Basiszutaten stimmen, aber bei der Zubereitung hakt es noch etwas: Das Krimi-Soufflé geht noch nicht richtig schaumig-leicht auf. Man muss die vielen kleinen Szenen sehr genüsslich löffeln, sonst sind die Schmunzler ruckzuck zusammengefallen und werden klebrig …