Die da oben – die da unten
Nun hat Bronny den Bluttest endlich machen lassen. Doch das Ergebnis will sie gar nicht erst erfahren. Die Chancen stehen nicht besser als fifty-fifty. Ihre Mutter wurde nur vierzig Jahre alt, da starb sie an der Huntington-Krankheit. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird sie das tödliche Gen an eines ihrer Kinder vererbt haben. Bronnys große Schwester Ursula kann von Glück sagen: sie hat es nicht.
Bronny ist erst 18. Sie flieht vor der Wahrheit, so weit sie nur kann bzw. ihr bisschen Erspartes sie bringt. Das reicht für ein Flugticket von Australien nach London Heathrow und ein wenig Taschengeld. Außer ihrer kleinen Umhängetasche hat sie kein Gepäck. Während des Zwischenstopps in Singapur lernt sie einen Typ aus Toronto kennen, der in London ein Internetcafe betreibt und sich auskennt. Er schickt sie zu einem Hostel, wo sie für kleines Geld die ersten Nächte verbringen kann. Sie bezieht ein Doppelzimmer zusammen mit Fliss, einem »Möchtegern-Model«, die in einem Pub jobbt.
Gleich am Abend schleppt Francesco, der Leiter des Hostels, Bronny auf eine Party ab, bei der auch Fliss später eintrudelt. Bei ohrenbetäubender Musik, Alkohol und Hasch aus der Wasserpfeife steppt der Bär, und das behütete Aussie-Girl stellt sich »wild entschlossen ihrer neuen Welt«. Es dauert nicht lange, bis sie die ganze Clique kennengelernt hat – alles Runaways (aus Neuseeland, Südafrika, Australien) und Backpack-Typen wie sie selbst.
Die Truppe realisiert ein gemeinsames Projekt: Sie besetzen ein mehrstöckiges georgianisches Stadthaus, das neben dem Hostel leersteht. Die Räume teilen sie unter sich auf und richten es sich darin gemütlich ein. Das Mobiliar dazu sammeln sie aus den Müllcontainern der Umgebung. In diesem Ambiente geht die Post dann richtig ab, und auch für Bronny. Die jungen Leute zelebrieren wahre Orgien mit jeder Menge Drogen, die Bronnys Hirn restlos vernebeln.
Bald nimmt sie überall im Haus Geräusche wahr. Da kratzt irgendwo jemand. Dann blubbert es in den Abwasserrohren. Es quiekt, als seien Schweine im Haus. Jemand kreischt … Bronny hält das nicht mehr aus. Sie drückt sich die Kissen aufs Ohr, aber die Stimmen in ihrem Kopf lassen nicht nach. So geht das nicht mehr weiter; sie muss einfach aufhören, Pot zu rauchen, sonst wird sie noch wahnsinnig.
Aber Bronny halluziniert keineswegs. Denn das alte Haus ist nicht ganz so leer gewesen wie angenommen. Drunten im Keller hält ein sexuell gestörter Psychopath seit Wochen eine Frau gefangen, um sie in Ruhe zu quälen und zu foltern. In letzter Zeit aber hat er die Lust an ihr verloren. Seit sie mit ihrem Stuhl nebst eingelassenem Eimer umgefallen ist, ekelt er sich vor ihr und besucht sie nicht mehr so häufig. Das ist ihre Chance, denn sie bemerkt auch, dass oben Leute ins Haus eingezogen zu sein scheinen. Jetzt muss sie alle Kräfte mobilisieren, sich irgendwie bemerkbar machen, damit sie endlich jemand befreit. Aber das ist nicht einfach, wenn man gefesselt und geknebelt ist.
Stand im ersten Teil Bronnys Werdegang im Mittelpunkt, so setzt im zweiten Teil der Psychothriller-Plot ein, und in dessen Gestaltung brilliert Helen FitzGerald. Sie schildert das seelische und physische Leiden der Gefangenen, dass es kaum zu ertragen ist. Für Spannung pur sorgen die immer wieder unternommenen Befreiungsversuche, bei denen sich die bedauernswerte Frau schwerste Verletzungen zuzieht.
Mit dem dritten Teil führt die Autorin die Handlungsfäden zusammen. Die jungen Leute sehen Rauch durch die Dielen aufsteigen, nehmen Brandgeruch wahr. Doch so plötzlich, wie er gekommen ist, verschwindet er wieder wie von Zauberhand. Bis zur finalen Rettung überrascht uns Helen FitzGerald mit jeder Menge unerwarteter Aktionen und Wendungen. Unsere eigene Suche nach dem Täter erschwert sie durch ständige Perspektivwechsel. Trotzdem glauben wir natürlich bald, den Täter dingfest gemacht zu haben, ärgern uns über die schlechte Polizeiarbeit – aber Vorsicht: Die Fäden hält jemand anders in der Hand, der es besser wissen muss …
Am Ende bleibt ein zwiespältiger Eindruck. Das gruselige Horrorszenario, auf das uns das gut gemachte Cover mit den leuchtenden Treppenstufen einnordet, enttäuscht unsere Erwartungen nicht. Mit dem Thriller um das Martyrium der Gefangenen wären wir allein schon sehr spannend unterhalten. Aber zuvor müssen wir erst Bronnys Schicksal und Wandlung verarbeiten. Ihr Problem, möglicherweise eine tödliche Erbkrankheit in sich zu tragen, ist natürlich ernst zu nehmen und könnte seinerseits einen seriösen Roman füllen. Wie gelingt es ihr, mit ihren Ängsten umzugehen? Wie verändern sich ihre Werte, ihre Beziehungen? Wird sie verzweifeln oder sich fügen? Das wäre eine ganz andere Geschichte.
Stattdessen lesen wir im ersten Teil eine total abgedrehte Story, die zu Bronnys Charakter gar nicht recht passen will. Dieser Handlungsstrang dient wohl lediglich dazu, dem Leser eine interessante Identifikationsfigur in der ›oberen‹ Welt zu verschaffen. Dieses Anliegen macht die Autorin dann aber wieder dadurch zunichte, dass sie ganz unnötigerweise auch im ersten Teil ständig unmotiviert die Perspektive wechselt: mal Ich-Form, mal Erzählung in der dritten Person. Kurzum: Ein Gewinn ist das alles nicht.
Helen FitzGeralds Roman »The Devil’s Staircase« erschien 2009; Steffen Jacobs hat ihn ins Deutsche übersetzt.