Geld verdirbt den Charakter
»Gabelfrühstück« – ein solch altmodisches Wort kann nur einem einfallen. Karla Pinter findet das Schätzchen im Briefkasten auf einer Einladung, übersandt von ihrem ehemaligen Kollegen Wolfram Kempner.
Lange hat Karla nichts mehr von dem alten Bücherwurm gehört. Beide hatten in der Stadtbibliothek gearbeitet; dann hat Karla den Kampf mit den modernen »audiovisuellen Medien« aufgegeben und wurde frühpensioniert. Jetzt ist sie 63, geschieden und weiß, dass sie keinen Mann mehr vom Hocker reißen wird.
Was also mag Wolfram (67) mit seinem Vorstoß bezwecken? Ein telefonischer Plausch mit Judith, einer jüngeren Kollegin und Freundin, bestärkt die Vermutung, er suche wohl eine Nachfolgerin für Bernadette, seine gut betuchte Ehefrau, die vor einem halben Jahr dreiundsiebzigjährig dahingeschieden ist.
Dafür steht Karla allerdings nicht zur Verfügung. Das Thema Männer hat sie ein für allemal abgehakt. Jetzt das Hausmütterchen spielen, einem Witwer »Wärme, Trost und Hilfe« angedeihen lassen? Nicht mit ihr. Doch Karla ist auch neugierig, und so nimmt sie die Einladung des Ruheständlers an.
Das Wiedersehen bringt Karla einen Schock. Immer schon »ein besonders mickriges Exemplar von Mann«, ist Wolfram jetzt nur noch ein Schatten seiner selbst. Nach kurzem Vorgeplänkel lässt er die Katze aus dem Sack: Er habe einen inoperablen Tumor, sei austherapiert. Außerdem habe er Schuld auf sich geladen: Als Bernadette ihn aus ihrem geschlossenen Zimmer um Hilfe rief, habe er sie im Stich gelassen und das Haus verlassen, um seinen Termin beim Onkologen wahrzunehmen. Als er zurückkehrte, war sie bereits tot – sie hatte einen Schlaganfall erlitten. Besonders reumütig zeigt er sich allerdings mitnichten, denn die dominante Bernadette hatte ihn jahrelang herumkommandiert und mit Vergnügen gequält.
Da Wolfram nun seinem eigenen baldigen Ableben entgegensieht, möchte er die »verehrte Karla« um eine »kleine Gefälligkeit« bitten: Sie möge dafür sorgen, dass er direkt neben Bernadette bestattet und auf dem Grabstein eine ungewöhnliche Inschrift angebracht werde: »Dein Feind ist nah.« Im Gegenzug werde er Karla testamentarisch begünstigen; er werde sein stattliches Gründerzeit-Wohnhaus versteigern und ihr ein Viertel des Erlöses vermachen.
»Wenn's weiter nichts ist. Geht in Ordnung!« Schnell besiegelt man den Pakt per Handschlag.
Anders als die gute Karla reagiert Judith skeptisch, als ihre Freundin ihr alle Details des denkwürdigen Treffens ausbreitet. Was ist die Herberge denn genau wert? Einstmals nobel, ist der Bau inzwischen in die Jahre gekommen. Sollte man nicht besser investieren und den »Schuppen« richtig aufmöbeln? Bald kriechen Zweifel auch in Karlas Gedanken. Wer weiß, ob alles stimmt, was Wolfram aufgetischt hat. Ein Testament hat sie nicht gesehen. Womöglich »lebt er länger als erwartet«. Nun ist die Gier geweckt, und die beiden müssen »den Wolf erst mal erlegen, bevor wir ihm das Fell abziehen« und ans sichere Hab gelangen.
Als sich Karla eine Woche später auf den Weg macht, um den Dingen auf den Grund zu gehen, ist Wolframs Zustand und der seiner Bleibe weiter verfallen: verlotterter Jogginganzug, schmutziges Geschirr, unaufgeräumte Zimmer. Aber das Thema Testament liegt auch ihm auf der Seele. Überraschenderweise hat er zwei neue Variationen in petto. Karla soll die Hälfte seines Vermögens erhalten, wenn sie den Todkranken zu Hause pflegt und ihm damit die verhasste Palliativstation des Krankenhauses erspart. Und alles, aber auch alles würde er ihr vermachen, wenn sie ihm »die Liebe« tut und seinem Leben ein Ende macht. Damit meint er nicht etwa Beihilfe zum Selbstmord, sondern Karla soll ihn eigenhändig umbringen ...
Ingrid Nolls neuester rabenschwarzer Krimi kommt mit unerwarteten Wendungen daher. Die geldgierige Ex-Kollegin ins Vertrauen gezogen zu haben erweist sich für Karla, die Ich-Erzählerin, bald als Belastung. Denn Judith hat einen Freund im Schlepptau, der so einiges auf dem Kerbholz hat. Und die Binsenweisheit, dass Geld den Charakter verderbe, gilt sogar für eigentlich harmlose alleinstehende Kleinpensionärinnen und Geld, das nur von ferne lockt. Immerhin windet sich Karla noch unter Gewissensbissen, während andere nicht so lange fackeln. Damit ist zwar bald der Wolf(ram) erledigt, doch sein Fell noch längst nicht in Karlas trockenen Tüchern.
Mit »Hab und Gier« knüpft Ingrid Noll an ihre frühesten Erfolge an, die Rosmarie-Hirte-Romane »Der Hahn ist tot« (1993) und »Die Apothekerin« (1996), 2008 in einer gemeinsamen Hörbuch-Ausgabe erschienen. Auch in deren Mittelpunkt steht eine männermordende Durchschnittsfrau, die ihre Moral über Bord wirft; auch sie sind in leichtfüßiger Ironie verfasst, wodurch sie riesige Popularität erlangten und bis heute stilbildend für Unterhaltungsliteratur und Fernsehfilme wirkten. Während die Protagonistin der Neunziger Jahre ihre Männer jedoch mit emanzipatorischem Eifer entsorgte, folgt ihre Kollegin in Zeiten der Banken-, Boni- und Steuersünder-Skandale ganz schnöden materialistischen Beweggründen. Zynischer mag man finden, dass das hochaktuelle Thema der Sterbehilfe anklingt, aber lediglich als Triebfeder für den Plot instrumentalisiert und damit auf seinen reinen Unterhaltungswert reduziert wird.
Aber Schwamm drüber – wer Ingrid Noll liest, weiß, was ihn erwartet: entspannte, humorvolle, horrorfreie Lesestunden.