Das Bild der Pyramide: Commissario Montalbano blickt hinter die Fassaden
von Andrea Camilleri
Ein schwer verletzter Bauarbeiter schleppt sich mitten in der Nacht zu einer Großbaustelle, um dort zu sterben. Bei der Aufklärung des Mordfalls überschreitet Montalbano manche Grenze und stößt in Regionen weit jenseits seiner Zuständigkeiten vor.
Die Botschaft des Opfers
Dieser ungewöhnlich düstere »Montalbano«-Krimi beginnt wie etliche frühere mit einem Albtraum des Protagonisten, der den bevorstehenden Fall vorausdeutet. Nicht weniger beängstigend als Salvos Traumland ist dann die Realität von Vigàta. Heftiger Regen, Sturzbäche und Erdrutsche haben die ganze Gegend mit graubraunem Morast überflutet. Daraus ragen skurrile Riesenmaschinen einer Großbaustelle wie Saurierskelette hervor. Für eine Wasserleitung werden mannshohe Betonrohre verlegt. In einem frisch getriebenen Tunnel werden sie einen Hügel unterqueren. Die schlammigen Abraummassen wurden zu einer großen Pyramide aufgehäuft – ein bildstarkes Leitsymbol.
Im strömenden Regen der Nacht hat sich Merkwürdiges zugetragen. Nachdem er in den Rücken geschossen worden war, schleppte sich der schwer verletzte Bauarbeiter Gerlando (»Giugiù«) Nicotra noch bis in die rohe Tunnelröhre, wo er sich verkroch und starb. Wollte er durch seine mühselige Flucht eine Botschaft hinterlassen, dass die Auflösung seines eigenen Mordfalls auf der Baustelle zu suchen sei?
Montalbanos Nachforschungen fördern schnell weitere Rätsel ans Tageslicht. Nicotras deutsche Ehefrau Inge – alles andere als eine treue Gemahlin – ist spurlos verschwunden, ebenso wie ein erst kürzlich eingezogener Verwandter, von dem es allerdings nicht eine einzige Spur gibt.
Wahrhaft skandalös sind jedoch die Einblicke, die sich dem Commissario eröffnen, als er Nicotras beruflichen Aktivitäten und Verbindungen nachgeht. Gesteuert von wenigen Akteuren, bestimmt ein Geflecht von Firmen das gesamte öffentliche Auftragswesen. Ausschreibungen werden manipuliert, vereinbarte Leistungen unterlassen, Materialvorgaben ignoriert, die Ausführung um Jahre hinausgezögert, Kosten in die Höhe getrieben. Möglich ist dies alles nur, weil einflussreiche Politiker, Gefälligkeitsgutachter, Anwälte und Beamte mitspielen.
Nun kommt der seit Langem still und reibungslos ablaufende Geschäftsbetrieb aus dem Tritt, als ambitionierte Bosse eine Ausweitung ihres Einflussbereiches ankurbeln und ungeahnte Geldwäsche-Modelle realisieren möchten. Das ruft rivalisierende Mafia-Clans und das Establishment auf den Plan. Die Auseinandersetzung wird mit harten Bandagen und allen denkbaren Mitteln geführt.
In diesem Sumpf müssen die Polizisten ihren Weg finden. Etwa zur Halbzeit gelangt Montalbano zu einer schönen Metapher, wie man sie in die Irre führt: »Sie inszenieren ein großes Spektakel, von dem wir bisher die ersten zwei Akte erlebt haben.« (Die Übersetzung des Bandes fertigten wieder Rita Seuß und Walter Kögler.) Selbstverständlich ist es ihm ein intellektuelles Vergnügen, sich auf diese Bildebene einzulassen: »Ich bin weder der Autor noch der Regisseur, ich bin ein Zuschauer, der aber irgendwann sagen darf, ob ihm das Stück gefällt oder nicht.« Am Ende wird der Kommissar als Autor, Regisseur und Schauspieler beherzt eingreifen und auch vor hemmungslosem und riskantem Bluff nicht zurückschrecken.
Die ewige Beziehung zwischen Salvo und Livia war kürzlich (am Ende von »Un covo di vipere« | »Das Nest der Schlangen« [› Rezension]) durch den Tod des Nordafrikaners François schwer belastet worden. Salvo und Livia hatten den Lebensweg des aufgeweckten, freundlichen Flüchtlingsjungen seit seiner Kindheit (»Il ladro di merendine« | »Der Dieb der süßen Dinge«) begleitet und unterstützt, als wäre er ihr Sohn. Sein tragischer Tod entzog beiden den Boden unter den Füßen. Livia verfiel in Depressionen, scheint jetzt aber auf dem Weg zurück zu ihrem früheren Wesen.
Im Übrigen hadert Salvo wieder gern mit seinen Alterserscheinungen und mit seinen Kollegen. Sein Stellvertreter, Frauenheld Mimì Augello, bekommt schon mal eine sarkastische Breitseite ab (»Selig sind die Augen, die dich zu sehen bekommen! Sagst du mir, wo du dich den ganzen Nachmittag herumgetrieben hast?«). Dagegen echauffiert er sich über Fazio nur im Stillen, denn dessen Gewissenhaftigkeit und vorauseilende Pflichterfüllung sind, ohne dass er es je zugeben würde, eine Grundlage für den Erfolg seiner eigenen gewagten Methoden.
Das Salz in der Suppe sind die Nebenfiguren ›aus dem Volk‹, die auch in den Verfilmungen [› aktuelle Übersicht] immer authentisch besetzt werden. Hier brilliert eine grantig-resolute Alte, die in ihrem Haus eine inoffizielle osteria betreibt. Über ihre Kochkünste überwinden Salvo und sie ihr gegenseitiges Misstrauen.
Von den ersten Zeilen an stellt der Autor die gesellschaftskritische Relevanz seines Krimis heraus, und er will am ganz großen Rad drehen. Im Fernsehen warnte ein Wissenschaftler, dass »keine Regierung jemals ernsthafte Maßnahmen für den Bodenschutz ergriffen habe« und »Italien vor einer gewaltigen geologischen Katastrophe« stehe wie ein Hausbesitzer, der sein Haus nie in Schuss gehalten hat und sich wunderte, dass es eines Tages über ihm zusammenbricht. »Vielleicht haben wir ein solches Ende verdient, war Montalbanos bitterer Kommentar.«
Das trübe Setting des Romans – Dauerregen, Schlamm, die groteske Baustelle – ist von Symbolik durchtränkt. Die Verflechtungen, die Salvo enthüllt, haben nicht nur Vigàta, sondern ganz Italien wie ein Pilzgewebe durchzogen, und das Motiv des Morasts, der die ganze Gegend versinken lässt, ist auf allen Bildebenen perfekt gestaltet: »ein Schlamassel aus Korruption und Bestechung, fingierten Zahlungen und Steuerhinterziehung, Betrug und gefälschten Bilanzen, schwarzen Kassen und Steuerparadiesen, Bunga bunga … Vielleicht, so räsonierte Montalbano, war das hier ein Symbol für den Zustand, in dem sich das ganze Land befand.«
Aber der Dreck nimmt unterschiedliche Zustände an. War die Abraumhalde soeben noch eine solide Pyramide, fließt später deren Spitze ab, und es verbleibt eine Art babylonischer Stufenbau. Bei seiner Betrachtung assoziiert Montalbano, wie es schon immer seine Spezialität war, geradezu physisch die Strukturen seines Falles. »Wussten Sie, dass die Cheops-Pyramide lange nicht betreten werden konnte, weil niemand den Eingang fand? Schließlich ist jemand zur Tat geschritten und hat ein Loch in die Wand geschlagen, ohne die Genehmigung der Wächter dieser Pyramide einzuholen.« Diese Strategie übernimmt er: »ein Loch in die Wand der Pyramide [schlagen] … Wir kappen die Pyramide.« Ein Detail des durchkonstruierten Settings weckt ein wenig Hoffnung: Indem der Schlamm langsam trocknet, brechen Ritzen auf, durch die zartgrüne Pflänzchen ans Tageslicht finden.
Ein komplexer Fall, eine relevante Botschaft, ein überzeugendes Bildkonzept – warum nur hat mich dieser Roman zunehmend kalt gelassen, ja gelangweilt?
Meines Erachtens liegt es an der Erzählweise, die steriler wirkt als bei Camilleri üblich. Ich fand in diesem Roman nur wenige Passagen mit szenischer Erzählung oder Schilderung, und nur selten habe ich Spannung und dichte Atmosphäre erlebt. Der größte Teil ist reiner Dialog zur Faktenvermittlung – Verhöre, Zeugenaussagen, Gespräche mit Staatsanwalt, Journalisten und insbesondere zwischen den Polizisten selber. In diesen Unterredungen, meist im Büro, vollzieht sich für den Leser der Erkenntnisfortschritt, aber emotional oder stimmungsmäßig involviert wird er nicht.
Die Gespräche sind überdies immer gleich gestaltet: Fazio trägt Details seiner Recherchen vor, Mimì berichtet von seinen Exkursionen; man diskutiert ein wenig, betrachtet die Informationen aus dieser und jener Perspektive, und der Höhepunkt wird erreicht, wenn der Chef die kühne Theorie mit Überraschungseffekt vorstellt, die er sich im Stillen ausgedacht hat. Fazio und Mimì lauschen andächtig, sind ganz baff, fragen schon mal verwundert nach wie devote Eleven zu Füßen ihres Meisters, und der ist sich der Überlegenheit seiner treffsicheren Intuition wohl bewusst. Wie Fazio und Mimì kann der Leser nur in Maßen mitraten und muss die nächste Zusammenfassung abwarten. Nicht etwa anschauliche handlungs- und figurenpralle Szenen, sondern die Serie dieser Vorträge rekonstruiert peu à peu den Fall.
Nun ist das Entwickeln der Lösung durch Gespräche im Kommissariat in allen Montalbano-Krimis ein festes und probates Stilmittel, das Geistesschärfe, feinen Witz und subtile Seitenhiebe zwischen den Ermittlern transportiert und jeden Mordfall würzt. Der Stoff des Pyramiden-Falles ist freilich mit seinem komplexen Geschäftsgeflecht zu spröde, die Handlung zu konstruiert, die Aufbereitung zu formelhaft, als dass der Roman überzeugen könnte. Dazu passt bezeichnenderweise, dass ein zentraler Träger unterhaltender Elemente in diesem Band keinen Auftritt hat: der griesgrämige Gerichtsmediziner dottor Pasquano, dem jede Frage des Commissario den Nerv zu rauben pflegt und der mit amüsanten Tiraden aus Ironie und Zynismus Rache zu nehmen weiß.