Menschenfischer
von Jan Seghers
Ein dreizehnjähriger Junge wird grausam ermordet. Eine umfangreiche Sonderkommission ermittelt intensiv, aber ohne Erfolg. Erst Jahrzehnte später bringt Robert Marthaler Licht in das finstere Geflecht, das er hinter der Tat aufdeckt.
Eine ungesühnte Schandtat
Ein gestandener Erwachsener hat schwer zu tragen, wenn er den Leichnam eines Kindes anschauen muss. Was für ein sprachloses Entsetzen muss im April 1998 die Mädchen und Jungen ergriffen haben, die beim Spielen in einem Fußgängertunnel unter den Gleisen des Bahnhofs Frankfurt-Höchst unvorbereitet auf den leblosen Körper des dreizehnjährigen Tobias Brüning stießen. Er war halbnackt dort abgelegt worden, nachdem der Täter den Jungen geschlagen und gewürgt, seine Kehle durchschnitten, seinen Unterleib bestialisch verstümmelt hatte.
Der abscheuliche Mord setzt ganz Deutschland unter Schock. In Frankfurt wird die Sonderkommission »Tunnel« gebildet, in der einhundertfünfzig Spezialisten unter der Leitung des Kommissars Rudi Ferres zusammenarbeiten. Sie rekonstruieren Minute für Minute des letzten Tages im Leben des Jungen. Viele Zeugenaussagen gibt es nicht, aber sie reichen aus, um ein Phantombild zu erstellen. Man wendet sich an die große Öffentlichkeit, das ZDF berichtet, und dennoch bleiben Hinweise aus, die zur Identifizierung des Täters führen könnten.
Nach und nach werden SoKo-Mitarbeiter für aktuelle Aufgaben abgezogen. Aber das Engagement des Chefermittlers scheint unermüdlich. Rudi Ferres lässt dieses Verbrechen nicht mehr los, bis ihn der eine oder andere für »verrückt« hält, er seine Familie und fast auch noch sich selbst verliert. Gut ein Jahrzehnt später wird er ohne großes Aufhebens pensioniert und setzt sich nach Südfrankreich ab, ohne eine Adresse zu hinterlassen.
Bis hierher entspricht der trostlose Verlauf der Handlung weitgehend einem erschütternden realen Kriminalfall und den vergeblichen Anstrengungen, ihn aufzuklären. Das reale Opfer hieß Tristan Brübach, der Hauptkommissar Rudolf Thomas. Immer wieder gab es bis in die allerjüngste Zeit Versuche, neue Einblicke in das finstere Geschehen herbeizuzwingen – ohne Erfolg.
Nun hat der Frankfurter Journalist und Autor Jan Seghers den Fall als Vorlage zu seinem sechsten Kriminalroman um den Protagonisten Robert Marthaler gewählt. Nach sorgfältigem Studium der verfügbaren Unterlagen hat er zahlreiche fiktionale Ergänzungen hinzugefügt und daraus ein umfängliches Handlungsgeflecht konstruiert, das aus den Anfängen bis in unsere Gegenwart reicht und schließlich zur Ergreifung des Kindsmörders führt.
Mitten in einer Nacht des Jahres 2013 klingelt Robert Marthalers Telefon. Am anderen Ende der Leitung hört er die verzweifelte Stimme von Rudi Ferres. Er bittet ihn, umgehend zu ihm nach Frankreich zu kommen, da werde er ihn auf den neuesten Stand seiner Erkenntnisse bringen. Seit Robert Marthaler selbst kurzzeitig Mitglied der SoKo »Tunnel« war, schätzt er deren unkonventionellen Chef, und deswegen macht er sich auf den Weg, obwohl gerade ein Terroranschlag die Frankfurter Innenstadt erschüttert hat und seine Mitwirkung vor Ort erwünscht wäre.
Rudi Ferres hat die Akten des Falles Tobias Brüning niemals geschlossen, sondern im Ruhestand sämtliche Unterlagen gründlich aufgearbeitet, pingelig geordnet und systematisch ausgewertet. Jetzt will er auf der Basis seiner neuen Einsichten einen letzten Versuch starten, den Mörder ausfindig zu machen. Eine Fernsehreportage soll erneut ausgestrahlt werden, und im Anschluss soll Hauptkommissar Marthaler Zuschaueranrufe entgegennehmen.
Tatsächlich geht ein ernstzunehmender Hinweis ein. Eine Anruferin behauptet, sie habe ein Schäferhäuschen an einen Fotografen vermietet, der dem im Fernsehen gezeigten Phantombild ähnle. Während Robert Marthaler die Zeugin befragt, werden in einem alten Bergwerksstollen unterhalb der Loreley die Leichen zweier Roma-Jungen entdeckt. Die Art, wie sie getötet und bestialisch verstümmelt wurden, ähnelt der des Falls Tobias Brüning.
Wendungsreich entwickelt sich die fiktionale Handlung, der Personenkreis weitet sich (beispielsweise erledigt ein eiskalter Killer für Geld jeden Drecksjob), und selbst der Terroranschlag bleibt nicht außen vor. Der angenehm dahinfließende Sprachstil des Autors gibt dem Roman Tempo. Man fliegt förmlich über die Seiten, saugt dabei die detailliert beschriebenen Methoden der Spurensicherung auf und folgt den Überlegungen der Ermittler.
Atem holen kann man, wenn zwischendurch das zwischenmenschliche Feld beackert wird. Da geht es um alltägliche Mäkeleien und das übliche Kompetenzgerangel der Polizeiabteilungen, aber auch um die komplizierte Beziehung des Protagonisten zu der Tschechin Tereza. Bei seinen Recherchen zu den beiden Kinderleichen an der Loreley lernt Robert Marthaler die lokal zuständige Kommissarin Kizzy Winterstein kennen. Schnell entdecken die beiden Kollegen Verbindungen zwischen ihren beiden Fällen – und auch zwischen ihren privaten Empfindungen. So dringen sie dann gemeinsam ermittelnd immer tiefer in einen Sumpf ein, dessen Existenz Rudi Ferres noch nicht einmal ahnen konnte.
Wie die vorausgegangenen fünf Marthaler-Krimis wird gewiss auch »Menschenfischer« bald fürs ZDF verfilmt. Seine Handlung ist voller Überraschungen, die Spannung setzt gleich am Anfang ein und trägt bis zum Schluss. Doch was ihn um so viel ergreifender macht als die meisten anderen Krimis ist das Wissen um die Wahrheit seines Anfangsfalles. Die erzählten Bilder des Martyriums, das ein unschuldiger kleiner Junge durchleiden musste, lassen einen nicht mehr los, ebenso wie die Fragen, was der Täter für ein Mensch sein muss, was ihn eine solche Tat begehen ließ, wie er danach möglicherweise Jahrzehnte mit seinem Gewissen weiterleben konnte.