Die Sünden der Vätergeneration
Peter Guillam hüpft nicht mehr wie früher, sobald der »Circus« pfeift. Es reicht, den Flug nach London am nächsten Tag zu nehmen, sich in Ruhe von Catherine, seiner vertrauten Gefährtin, zu verabschieden und sie in bewährter Weise mit der lapidar-wasserdichten Begründung zu vertrösten, dass wieder jemand gestorben sei. Nach ein paar Tagen würde sie der Pensionär auf seinem Bauernhof in der Bretagne wieder in die Arme schließen können.
Folge leisten muss er immer noch, wenn der MI5 (alias »Circus«, »Zentrale«, »Service«, »Box«) ruft. Während der Zeit des Kalten Krieges war Peter die rechte Hand von George Smiley, damals Chef des britischen Geheimdienstes. Jetzt soll er bei dessen Nachfolgern in einer uralten Angelegenheit Stellung nehmen.
Aber die Zeiten haben sich geändert. Was einmal eine Art Zuhause an der Themse für ihn war, ist restlos verändert. Der heruntergekommene »viktorianische Schandfleck« mit »wurmstichigen Holztreppen« und »Gestankgemisch aus kaltem Zigarettenqualm, Nescafé und Deodorant« ist einem »Spionage-Freizeit-Park« gewichen. Nirgendwo klappern mehr Schreibmaschinen oder quietschen Aktenwagen. Die Mitarbeiter tragen legere Kleidung und schauen gelangweilt drein. Der Ton ist locker, jovial, distanzlos: »Hi, Peter, wie schön.« In einem klinisch weißen Büro empfängt ihn enthusiastisch ein »bebrilltes Privatschulbürschchen«, das sich als Geheimdienstanwalt »Bunny« vorstellt. Mit Kollegin Laura, ebenfalls Anwältin, Spezialgebiet Vergangenheit, wird er den Kollegen aus alter Zeit fortan begleiten. Dem ist herzlich zuwider, als »Pete« angesprochen zu werden, aber so etwas scheint niemanden ernsthaft zu interessieren. Ohnehin tut er sich schwer mit dem zwischen leger und angriffslustig pendelnden Umgangston dieser beiden jungen Vertreter des mächtigen Geheimdienstes Ihrer Majestät.
Endlich geht es zur Sache. Dem Service drohe, so »Bunny«, ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, der die verdeckte Operation »Windfall« aus den frühen Sechzigern aufklären solle. Damals wurde der MI5-Außendienstler Alec Leamas zusammen mit einer Frau auf der Ostseite der Berliner Mauer erschossen. George Smiley müsste die Hintergründe kennen, doch der ist ebenso unauffindbar wie die Akten des Falls.
Die Aufarbeitung der Historie ist für die heutige Generation ein »Megatrend«, eine Art »Nationalsport« geworden. Die unbescholtenen Jungen fordern schonungslose Aufklärung über suspekte Aktivitäten der Vätergeneration (»auch wenn sie damals nicht als Sünden galten«), öffentliche Schuldzuweisungen und Ausgleichszahlungen. Darum kämpfen auch zwei Nachkommen der beiden Maueropfer, und edel gesinnte »Bürgerrechtsanwälte in offenen Sandalen« unterstützen sie dabei. »Bunny« wähnt sich in den Gefilden Shakespearescher Tragödien: Die Gespenster der Opfer tauchen aus dem Nebel auf und klagen in Gestalt ihrer Nachkommen die Verschwörer an.
Wer hier tatsächlich angeklagt und zu Fall gebracht werden soll, damit der Service am Ende für die Öffentlichkeit unbescholten da steht, ist unserem Ruheständler von Anfang an klar: er selber. Aber als Spion der alten Schule hat er von der Wiege an gelernt, »zu leugnen, zu leugnen ... und wieder zu leugnen«, und es ist ihm ein Vergnügen, mit den beiden Greenhorns in der »Zentrale« Schlitten zu fahren. Über die Operation »Windfall« enthüllt er nur so wenig, wie unbedingt nötig ist, und dabei kommen ihm seine Zipperlein wie Schwerhörigkeit und löchrige Erinnerungen sehr zupass.
Da erwächst Peter Guillam in Christoph Leamas, dem Rächer seines Vaters Alec, schon ein anderes Kaliber. Der Mann hat sogar gerade Catherine heimgesucht und über seinen Verbleib ausgequetscht. (Gut, dass er sie in seine Machenschaften nie eingeweiht hat.) Aber schon ihre unschuldige Andeutung »Trauerfeier in London« setzt Christoph auf die richtige Fährte zum einstigen Partner und Freund seines Vaters. Um Aufarbeitung der Vergangenheit geht es dem Herrn mit Boxerstatur und langem Vorstrafenregister allerdings nicht. Seit drei Jahrzehnten im weltweiten Diamanten-, Drogen- und Waffengeschäft unterwegs, hat der »Glücksritter« nun seine »Goldmine« gefunden: den Verantwortlichen für den Tod seines Vaters.
John le Carré braucht man niemandem mehr vorzustellen. Als David John Moore Cornwell wurde er 1931 geboren, arbeitete selbst für den MI5 und hat seit den Sechzigerjahren vielfach preisgekrönte und verfilmte Spionageromane veröffentlicht. Sein dritter George-Smiley-Roman, »The Spy Who Came In From The Cold« (1963, dt.: »Der Spion, der aus der Kälte kam«), liefert nun die inhaltliche Vorgeschichte zum aktuellen Bestseller »A Legacy of Spies« (»Vermächtnis der Spione«, brillant übersetzt von Peter Torberg). Infolgedessen erwachen nicht nur die fiktionalen Figuren, sondern auch die Umstände des Kalten Kriegs zu neuem Leben. George Smiley, Chef der Abteilung Verdeckte Operationen und begnadeter Strippenzieher, ließ seinen Mitarbeiter Alec Leamas in die DDR einschleusen, wo ihm die ostdeutsche Abwehr, die ja auch nicht gerade auf der Wurstsuppe herumschwamm, einen cleveren Gegenspieler entgegenstellte. Wer dann genau welche Verantwortung für die späteren Todesschüsse an der Berliner Mauer trug – im Visier natürlich: George Smiley (»Rädelsführer«) und Peter Guillam (»Laufbursche«) –, das möchten nicht nur Sohn Christoph und der Leser herausbekommen, sondern die gesamte Öffentlichkeit soll es erfahren.
Aus diesem Kern entwickelt John le Carré seinen Spionageroman für heutige Verhältnisse geradezu gemütlich. Statt mit knisternder Spannung – von Action ganz zu schweigen – überzeugt der Altmeister des Genres durch eine raffinierte Konstruktion seines Plots und durch geschliffenes, oft hintergründiges, süffisantes Formulieren. Als amüsante Beilagen serviert er gern Kuriositäten aus dem Agentenalltag. Wer hätte gedacht, dass »ein rosa Babyfäustling« auf einem Zaunpfahl am Wegesrand nicht etwa einem Säugling aus dem Schlitten gefallen und nun den Eltern zum freudigen Wiederfinden bereitgesteckt worden war, sondern leibhaftigen Kurieren mit der Lizenz zu allem Möglichen als Kommunikationsmittel dient? Hübsch ostalgisch auch die Zufallsbegegnung mit einer Gruppe Sorbinnen (»Geschützte Art in der DDR«), die mit ihren Kiepen voller Gurken zum Handeln in der Hauptstadt unterwegs sind.
Im Wettlauf der Ideologien treten Ost und West gegeneinander an. Die Nachrichtendienste sind ihre Geheimwaffe, deren technische und psychologische Methoden jenseits unserer Vorstellungskraft liegen. »Quellen« und »Unterquellen« werden angeworben, Maulwürfe, Spitzel, Verräter und kaltblütige Mörder treiben zum Wohle des jeweiligen Systems ihr untergründiges Unwesen. Nicht wenige verdienen ihr Brot gleich bei beiden Seiten. Wie bieder dagegen die Nomenklatur der Decknamen, die man als Spezialagent über sich ergehen lassen muss: »Narzisse«, »Tulpe«, »Maiblume« (»Daffodil«, »Tulip«, »Mayflower«). All dies führt der Autor präzise und differenziert vor, hält aber gruselige Details dezent unter der Decke.
Als Insider kann John le Carré aus dem Vollen schöpfen, als Brite hat er eine Ader für Sarkasmus. Spione, die »Erbsenzähler ihrer Majestät«, sind, anders als ihre Regierung glauben mag, kein Allheilmittel, sondern selber »die verfluchte Krankheit. Vollidioten, die vollidiotische Spielchen treiben und sich für die allerklügsten beschissensten Klugscheißer des Universums halten«. Von höchsten Stellen abgesegnet, operieren sie herum, um den Weltfrieden zu retten, erzeugen gewaltige Kollateralschäden aller Art und töten zahllose Kollegen und Unbeteiligte, und am Ende ist die Menschheit keinen Deut besser dran als vorher.