Ganz in Weiß mit grauen Pünktchen
Vor der Kamera: alles Gold, alles Show. Wenn sich zwei Liebende das Ja-Wort geben, um einander in guten wie in schlechten Zeiten beizustehen, gilt das als »der schönste Moment im Leben eines Paares«. Damit hat die Feier eigentlich genügend Bedeutung und Würde. Allerdings scheint das heutzutage vielen Paaren nicht zu auszureichen. Sie pimpen den Tag zum Happening und Statussymbol, um Anverwandte, Freunde und Gäste gehörig zu beeindrucken. Eine ganze Dienstleisterbranche bietet sich an, den Traum von Romantik, Liebe und Idylle zu inszenieren und jede Idee, das Event einzigartig zu prägen, zu organisieren. Da am Hochzeitstag die Devise »Geiz ist geil« ins Gegenteil gedreht wird, lässt sich viel Geld abgreifen.
Das Filmteam, das alles festhält, in bestes Licht taucht und für Öffentlichkeit und Ewigkeit auf DVD schneidet, spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle im Gesamtarrangement. Die Wohlfühlspezialisten müssen jeden Augenaufschlag der Protagonisten mitbekommen, andererseits den »Tisch der Ausgestoßenen« meiden, wo die Leute sitzen, die einzuladen man »lieber vergessen hätte«, das Regiment der dominanten Schwiegermutter ausblenden, die Schlägerei am Ende der Feier höflich ignorieren und schließlich das polierte Produkt mit schnulziger Melodiensoße weichzeichnen.
Hinter der Kamera: viel Arbeit, alles Routine. Hochzeitsfilmer Corentin beginnt seinen beruflichen Alltag am Samstagmorgen. »Frisieren, Ankleiden des Brautpaars, Standesamt, Tausch der Ringe, die Gruppenaufnahme, die Kirche von außen, der Sektempfang und einige Sekunden darüber, wie es dann weiterging«. Erst am frühen Montagmorgen kann er tief durchatmen, wenn er seine Ausrüstung zusammenpackt und sich erschöpft nach Hause schleppt. Corentin macht den Job, mit Hochsaison von Mai bis September, nun schon mehrere Jahre, und die sich wiederholenden Abläufe langweilen ihn. Aber alles ist besser als der Lehrerberuf, zu dem ihn seine Eltern stets gedrängt haben. Seit er das Geschichtsstudium geschmissen hat, meidet er sie und den immergleichen Disput. Mehr Verständnis fand er bei seinem Patenonkel Yvan, 52. Der kinderlose Junggeselle bot ihm vor ein paar Jahren die Gelegenheit, in sein Geschäft einzusteigen, und das war dem Studienabbrecher willkommen.
Dennoch ist Corentin, 27, noch nicht so richtig in seiner Lebensspur angekommen. Keine junge Frau ist auf Dauer zufrieden in einer lockeren Beziehung im Standby-Modus mit einem wortkargen Typen ohne Ehrgeiz und ohne sichere Zukunft. Daher überrascht es Corentin nicht, als er den Zettel seiner aktuellen Kurzzeitpartnerin findet, dass alles »ein Irrtum gewesen« sei.
Wie elend Corentin tatsächlich drauf ist, erfahren wir erst ziemlich am Schluss des Romans. Vor dem Strudel des Abgrunds rettet ihn der originelle Einfall einer jungen Braut. Aline möchte ihrem zukünftigen Lebenspartner eine Liebeserklärung in die Kamera sprechen. In der Intimität der Aufnahmesituation blüht Aline auf, »leuchtet im Halbdunkel«, verzaubert den Mann hinter der Kamera durch ihre Erscheinung und die Wahrhaftigkeit ihrer Offenbarungen. Corentin entwickelt daraus ein Konzept. Wie Aline sollen sich weitere Kunden vor seiner Kamera frei und vertrauensvoll öffnen. Alexandre, sein bester Freund aus Schulzeiten, macht den Anfang und richtet unerwartet unverblümte Sätze an Corentin selbst. Er hält ihm vor, dass er einer sei, »der seine Mitmenschen auf Distanz hält«, und fragt ihn, ob er denn einen »besten Freund oder einen Vertrauten [habe], irgendein Ohr, das dir in Nächten der Verzweiflung zuhört«. Damit trifft er Corentins Dilemma im Kern.
In den drei darauffolgenden Monaten zeichnet Corentin vierzig weitere monologische Selbstportraits auf, darunter die seiner Eltern und seines Onkels. Auch Mutter Pascale spricht unangenehme Wahrheiten aus, wenn sie etwa bedauert, dass ihr Sohn »wenig Glück« in der Liebe habe, zu »bequem« sei und es sich »zu einfach« mache, indem er sich auf den Beobachterposten zurückziehe. Wenigstens Yvan baut seinen Neffen wieder auf (»Du bist einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben.«) und lobt sein Talent, Menschen dazu zu bringen, ihm »Dinge anzuvertrauen«.
Tatsächlich waren die vielen Filmportraits, wie Corentin nach dem Sommer seinem Freund Alexandre gesteht, seine letzte Rettung, als er Hilfe bitter benötigte, aber nirgendwo finden konnte. Die vielen »stummen Fragen, die mir meine Gegenüber gestellt haben,« gaben ihm Einblicke in das Leben der Sprecher und bedeuteten ihm »Wegzehrung« in einer schlimmen Lebensphase. Sollte er je wieder in ein solches Tief abgleiten, werde er sich die Aufnahmen erneut ansehen.
»Mariages de Saison« , Jean-Philippe Blondels neuester Roman (Anne Braun hat ihn übersetzt), ist im Vordergrund der Ereignisse, vor der Kamera, eine komödiantische, bisweilen geradezu filmreife Schilderung mehrerer turbulenter Hochzeitszeremonien, deren aufgebauschtes, fassadenhaftes Brimborium zart ironisch aufs Korn genommen wird. Auf Rosen gebettet ist keins der Paare, vielmehr piekst bereits die eine oder andere Dorne, ehe der gemeinsame Lebensweg seinen Anfang nimmt. Dahinter aber muss der sensible Protagonist Corentin seinen Weg finden, und das komplementiert die Vorgänge mit einer ernsten, berührenden, melancholischen Note. Die Monologe sind, kursiv abgesetzt, in die Handlung eingeflochten, unterbrechen sie, lassen innehalten. Als Letzter im Reigen stellt sich Corentin der Kamera. Seine Offenbarung trifft uns als Überraschung – das Geständnis einer verletzten Seele, die den Boden unter den Füßen verloren hatte und sich wieder stabilisieren konnte.