Grillen und Ameisen
Susan braucht einfach mal eine Pause. Die beiden Töcher, zwei »kleine Monster« von einem halben und viereinhalb Jahren, rauben ihr die letzte Kraft. Um wieder aufzutanken, möchte sie mit ihnen ihre Eltern besuchen. »Und ich?«, macht Ehemann Vincent geltend, dass er natürlich ebenso gestresst ist. Susans Vorschlag: »Du könntest ja mal Deine Eltern besuchen!«
Auf die Idee wäre Vincent, der Ich-Erzähler, wohl kaum von selbst gekommen. Seit zehn Jahren lebt er jetzt schon mit Susan in London. Mit seiner französischen Vergangenheit hat er damals endgültig abgeschlossen und einen radikalen Wandel hingelegt. Niemand hätte dem »sympathischen Drückeberger«, Schulversager, Gelegenheitsjobber und Schmarotzer zugetraut, dass er einmal Verantwortung übernehmen und etwas Solides auf die Beine stellen könne. Doch »Les Cafés Bleus – oh mon Dieu«, die alternative Fastfood-Kette, die er mit einem Partner aufgezogen hat, etabliert sich immer besser im britischen Markt. Erst kürzlich strahlten die beiden Unternehmer sogar vom Titelblatt eines bekannten Wirtschaftsmagazins. Vincent, 37 und voller Tatkraft, ist zu Recht stolz auf sich.
Warum also eigentlich nicht für eine Woche in dem französischen Dorf für Aufsehen sorgen, wo die Eltern, der Bruder und die alten Freunde gewiss unverändert ihr biederes Kleinbürgertum pflegen? Waren die Großeltern noch bescheidene Hausangestellte, so konnte sich sein Vater immerhin zum leitenden Angestellten bei der Eisenbahn emporrobben. Spießer blieben sie trotzdem alle, vor allem Vincents fünf Jahre jüngerer Bruder Jérôme. Der war schon immer eine »fleißige Ameise«, angepasst und langweilig, aber der Eltern Augenweide. Der Lokalpatriot ist Lehrer geworden, hat seine Sandkastenliebe Céline geheiratet, und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute glücklich und zufrieden ...
All das hat Vincent stets verabscheut. Er wählte lieber die Daseinsform einer »Grille«: ein wenig zirpen, die Sonne genießen, nicht an morgen denken. Nach dem Schulabbruch bezog er mit Freund Étienne, den er sich als idealen Bruder gewünscht hätte, eine gemeinsame Wohnung. Neun Jahre währte ihr zügelloses, ausschweifendes Lotterleben. Mädchen gingen ein und aus, ebenso Polizisten, die wegen Alkoholmissbrauchs, Drogenbesitzes, Eigentumsdelikten und Parolenschmierereien einschreiten mussten. Während die Nachbarn giftige Kommentare tuschelten, versanken Vincents Eltern vor Schande im Erdboden.
Als Vincents Rolltreppe ihn fast bis ins soziale Kellergeschoss befördert hat, betritt Susan die Bühne. Die Tochter aus reichem britischen Haushalt weilt für ein Jahr als Assistant Teacher in Frankreich, und Vincent erkennt seine Chance. Abrupt zieht er die Reißleine, löst sich aus Étiennes Umklammerung und folgt Susan nach London.
Jetzt, wo er etwas vorzuweisen hat, ist der Zeitpunkt gekommen, von den oberen Sprossen der Karriereleiter einmal hinunterzuschauen, was wohl aus den Zurückgelassenen geworden sein mag. Von Vincents siebentägiger Reise in sein Heimatdorf und in seine Vergangenheit erzählt Jean-Philippe Blondel in seinem Roman »This is not a love song« , den Anne Braun ins Deutsche übersetzt hat.
Der Besuch gerät zum Desaster. Trotz guter Vorsätze (dem Vater bei Anstreicharbeiten zur Hand gehen, die Mutter ins Restaurant einladen, »Friede, Freude, Eierkuchen« verbreiten, gemeinsam Scrabble spielen, in Illustrierten blättern und in die Röhre starren ...) schwächelt Vincent schon, als er in seinem alten Zimmer einquartiert wird. Mit den ihm seit Kindertagen vertrauten Gerüchen im elterlichen Reihenhaus – diverse Varianten abgestandenen Miefs, von Möbelpolitur überlagert – haben sich unangenehmere vermischt: die Ausdünstungen bejahrter Körper, darüber fleißig versprühte künstliche Lavendelaromen, die die Provence ins Haus holen sollen, im Mix aber bei Vincent nichts als Übelkeit auslösen.
Die Wiederbegegnung mit Bruder und Schwägerin inklusive gemeinsamem Abendessen gleicht einer Reality-TV-Show. Kurzzeitig blitzt aufrichtige Rührung auf, ehe Klischees, Plattitüden, Peinlichkeiten, Heuchelei und Verlegenheit wieder die Oberhand gewinnen. Verlass ist einzig auf die seit jeher bestehende solide Abneigung der Schwägerin Céline. Mit den alten Freunden – Frank, Olivier und Fanny, der einzigen Mädchenbeziehung vor Susan – ergeht es Vincent nicht besser. Nach vier Tagen unter lauter Existenzen, die nur noch ein Schatten ihres früheren Selbsts sind, fühlt er sich als »Wrack inmitten einer Vergangenheit voller Wracks«. In welchem Ausmaß sein Heimatland »in seinen Traditionen und Glaubenssätzen erstarrt« ist, hat ihn »wie ein Hexenschuss im Denken« getroffen.
Was aber ist aus seinem WG-Bruder Étienne geworden? Weder das Telefonbuch noch Google noch die Familie dienen mit Auskünften. Ausgerechnet Céline, in Vincents Urteil die Scheinheiligkeit in Person, weiß etwas zu berichten. Sie engagiert sich ehrenamtlich für Obdachlose – einst nichts als »Abschaum« in ihren Augen. Sie eröffnet ihm die traurige Geschichte vom sozialen Absturz seines verschollenen Freundes. Leicht hätte es auch seine eigene Geschichte werden können, wäre da nicht Susan eingeschritten. Vincent verließ Étienne damals einfach so, ignorierte die enge Freundschaft, kümmerte sich nie mehr, dachte nur noch an seine eigene Karriere und Familie. Trägt er da nicht Mitschuld am ungebremsten Fall des im Stich gelassenen Freundes?
Der französische Autor Jean-Philippe Blondel hat ein feines Gespür für subtile Psychologie und kommunikative Zwischentöne. Spitz und hintergründig zeichnet er die Charaktere und legt ihre Brüche offen, zwischen ihrer Gegenwart und ihrer Vergangenheit, zwischen ihren Idealen und ihrer Realität, zwischen ihren Worten und ihren Taten. Er beleuchtet insbesondere, wie Beziehungen (familiäre Bindungen, Freundschaft, Liebe) in unserer Zeit steten Wandels die Menschen überfordern können, zwangsläufig Opfer hinterlassen. Auf der schwierigen Suche nach Selbstverwirklichung nehmen viele die Bedürfnisse der Nächsten in ihrer Umgebung kaum mehr wahr.
Als arroganter, nicht unsympathischer Egomane war Vincent aufgebrochen, um seine Daheimgebliebenen in der Provinz Demut zu lehren. Geläutert und selbst ein bisschen demütiger kehrt er in die Metropole zurück. So blitzschnell und leichtfertig er sein Urteil über andere zu fällen gewohnt war, so verletzlich erscheint er am Ende in seinem Innersten.
Mit seinem luftig-amüsanten Ton, durchzogen von feiner Ironie und durchweg im Präsens dahinfliegend, ist Blondels neuester Roman flüssig zu lesen (Das großzügige Layout tut ein Weiteres.). »This is not a love song«, aber eine hübsche, unterhaltsame und leicht nachdenklich stimmende Lektüre für Sommertage, an denen milde Regentröpfchen aus hellgrauen Wattewölkchen sogar die Sonne zu einer kleinen Ruhepause verführen.