Das bittere Ende eines Traums
Einen geruhsamen freien Tag wollte sich der commissario heute gönnen. Als der Innenminister angekündigt hatte, auf dem Rückflug von Lampedusa die Flüchtlingsunterkünfte in Vigàta in Augenschein zu nehmen, und Polizeipräsident Bonetti-Alderighi sofort Anweisungen erteilte, wie jegliche Unannehmlichkeit schon im Vorfeld zu vereiteln sei, spürte Montalbano gleich die Wut in seinem Bauch. Diesen feinen Herrschaften wollte er keinesfalls persönlich begegnen. Also delegierte er die Angelegenheit kurz entschlossen an seinen Stellvertreter Mimì Augello und würde ausnahmsweise einmal zu Hause bleiben.
Doch der Tag beginnt unangenehm und unheimlich. Das Telefon klingelt auch heute, und sicher wird der Telefonist am Apparat sein, der um diese frühe Stunde im Kommissariat als einziger die Stellung hält. »Catarella sum«, tönt es aus dem Hörer. Salvo traut seinen Ohren nicht. Sollte sein Bürofaktotum ein wenig Latein können? Um sein wie immer dringliches Anliegen vorzubringen, kehrt Catarella dann doch lieber in sein eigenwilliges Italienisch zurück und verwickelt sich wie üblich in eine »langatmige und komplexierte Geschichte«: Ein Bauer habe auf seinem Acker einen Sarg vorgefunden, und der commissario sei als einziger verfügbar, um hinzufahren.
Über enge, holprige Wege erreicht Montalbano das Feld. Catarella ist schon da. Als er den Deckel des simplen Holzkastens ein wenig lüpft, rümpft er die Nase: »Iam fetet.« Jetzt platzt dem commissario der Kragen. Was für ein Spiel treibt der Kerl mit ihm? Er brüllt seinen treuen Mitarbeiter derart an, dass der vor Schreck erstarrt, alle Vorwürfe von sich weist und erbärmlich zu jammern beginnt: »O me miserum! O me infelicem!«. Der Telefonist, der schon mit seiner Muttersprache auf Kriegsfuß steht, zitiert aus Ciceros Verteidigungsrede »Pro Milone«! Rasende Wut packt Salvo, er verliert jegliche Contenance und stürzt sich auf den armen Kollegen.
Plötzlich öffnet sich der Sargdeckel, und heraus steigt niemand anders als der Questore Bonetti-Alderighi. Der Anblick seines ungeliebten Vorgesetzten im Leichentuch lässt Montalbano einen derartigen Schreck in die Glieder fahren, dass er aus diesem merkwürdigen Albtraum erwacht. Er findet sich wieder im morgendlichen Diesseits eines ganz normalen Arbeitstages …
So seltsam und doch so stimmig und real erscheinen Salvo die Ereignisse in seinem Traum. Nur gut, dass nichts der Wirklichkeit entspricht, vor allem nicht der Besuch des Innenministers. Aber kaum im Kommissariat eingetroffen, holt ihn sein Traum Stück für Stück ein.
Fazio meldet, in zwei Stunden treffe der Innenminister bei den Notunterkünften ein, und legt seinem Chef, dessen Aversionen er kennt, gleich nahe, sich einen freien Tag zu nehmen. Mimì Augello berichtet, dass Questore Bonetti-Alderighi ins Krankenhaus eingeliefert worden sei. Und schließlich zeigt ein Landbesitzer namens Intelisano einen seltsamen »Einbruch« an. Unbekannte hätten ein heruntergekommenes Häuschen auf seinem Ackerland mit einer massiven Tür samt Riegel verschlossen. Da der Innenminister spontan umdisponiert und lieber ohne Zwischenstopp in Vigàta nach Rom zurückfliegt, kann Montalbano sich der Sache annehmen. Doch beim Ortstermin steht das kleine Gebäude offen, die angeblich eingesetzte Tür ist verschwunden.
Wie zumeist wird commissario Montalbano auch im neuesten Band – dem neunzehnten der Reihe – mit mehreren Fällen gleichzeitig konfrontiert. So erscheint jetzt auch noch ein feiner Fünfzigjähriger auf dem Kommissariat und meldet, seine junge (sehr junge!) Frau Loredana sei mitten in der Nacht um die Tageseinnahmen seines Supermarktes beraubt worden. Camilleris Spezialität und Meisterschaft besteht darin, dass das eingespielte Team im Verlauf seiner dialog- und wendungsreichen Ermittlungen unter zunächst rätselhaften, harmlos oder skurril anmutenden Oberflächen weit verzweigte Abgründe aufbricht und düstere Machenschaften des organisierten Verbrechens oder der großen Politik, Korruption, Gaunereien oder persönliche Leidenschaften (Liebe, Eifersucht, Hass, Missgunst, Habgier ...) ans Tageslicht bringt.
Dieses Mal bekommen wir es mit einer vertrackten Liebesaffäre, kriminellem Kunsthandel und illegaler Waffenschieberei zu tun. Letztere steht im Zusammenhang mit dem politischen Umsturz in Tunesien im Frühjahr 2011, der den »Arabischen Frühling« einleitete. (Das italienische Original »Una lama di luce« erschien ja bereits 2012.) Wegen der möglichen Gefahr eines Anschlags zieht die Antiterrorismus-Dienststelle den Fall exklusiv an sich, aber ungeachtet der Warnung, sich herauszuhalten, bleibt Montalbano am Ball und recherchiert auf eigene Faust weiter. So kehrt er auf den verfluchten Acker zurück, der ihm aus Traum und realem Ortstermin vertraut ist. Ein reflektierter Lichtstrahl – die »Spur des Lichts« – verrät ihm, dass ihn jemand aus dem verfallenen Haus heraus beobachtet.
Mit diesem Detail kommt eine private Angelegenheit zwischen Salvo und seiner Langzeit-Verlobten Livia ins Spiel. Sie hatte fünfundzwanzig Jahre zuvor hoffnungsvoll begonnen und hätte damals zu einer Heirat führen können. Dann aber brachte sie einige Enttäuschungen mit sich, die die beiden stattdessen voneinander entfremdeten und bedrückten. Auch jetzt meldet sich Livia aus dem ligurischen Boccadasse und klagt über eine unerklärliche körperliche und schmerzhafte Beklemmung, als ob ihr »etwas ganz Schlimmes zustoßen könnte«.
Ehe all dieses Chaos Montalbano überrollt, findet er noch Zeit, der neu eröffneten Galerie in Vigàta einen entspannten Besuch abzustatten. Dort entfachen die Reize der attraktiven Galeristin Marian ein Feuer in ihm, das seine Treue zu Livia nicht löschen kann, zumal Marian geschickt dafür sorgt, dass es immer aufs Neue auflodert. Aber Salvos schweifende Gedanken und Gefühle sorgen für allerlei Missverständnisse und Komplikationen bei den Telefonaten mit Livia. Doch wer (außer ihr) würde es Salvo – einem Mann in den besten Jahren – verübeln, wenn er die diffizile Dauerbeziehung zur fernen und komplizierten Verlobten nicht gelegentlich in den Hintergrund treten ließe?
Mit ungewohnter Tragik und erschütterndem Leid endet der Roman, wo er ein paar Tage zuvor begann, und erfüllt auch noch den letzten Vorausverweis des Albtraums: Auf jenem trostlosen Acker steht tatsächlich ein Sarg billigster Machart, ein Stück weißes Leinen schaut hervor, und als er die Leiche darin erblickt, bricht Salvo Montalbano, der mannhafte, hartgesottene und doch sensible commissario von Vigàta, zusammen.
Mehr zum Inhalt des zugehörigen Fernsehfilms »Una lama di luce | Düstere Vorahnung« finden Sie hier.